Rezepte aus der Menschenfresser-Küche

TASCHENBÜCHER Eine dünne Schicht Schnee liegt über der Stadt. Der Niederländer Athur Daane, Dokumentarfilmer und Held von Cees Nootebooms Roman Allerseelen, geht ...

Eine dünne Schicht Schnee liegt über der Stadt. Der Niederländer Athur Daane, Dokumentarfilmer und Held von Cees Nootebooms Roman Allerseelen, geht die Berliner Knesebeckstraße hinunter. Nach dem Blick in das Schaufenster einer Buchhandlung bleibt ihm die Silbe "nisch" im Gedächtnis. Sie erinnert ihn an das niederländischen "nis", Endsilbe von "Geschiednis", zu deutsch "Geschichte". Kein Zufall, wie der Leser später erfährt, denn die Spuren der Geschichte in den Häusern und Straßen Berlins sind es, die für Daane diese Stadt so faszinierend machen. Nicht, dass er sich zum Historiker berufen fühlte, nein, es ist die Aura, die die Straßen und Plätze der Stadt ausstrahlen und ihn anziehen, die vergangenen Kämpfe, die vergangene Gewalt und - der Tod. Tod und Trauer spielen in Allerseelen eine große Rolle. Die Trauer des Helden um seine Frau und seine Tochter, die bei einem Unfall ums Leben gekommen sind und an die er immer wieder denken muss. Die Melancholie einer Stadt mit einer derartig dramatischen Vergangenheit wie Berlin, in der so viele Schicksale entschieden wurden und so viel gestorben worden ist.

Wobei Daanes Berlin vor allem im alten Westberlin liegt, denn der Osten dringt nur langsam in sein Bewusstsein ein, zumindest der "real existierende" Osten, der, der nach der Wende entstanden ist. Die Erzählung segelt ganz nah am Kitsch vorbei. Wäre Nooteboom nicht ein intelligenter Beobachter und Interpret, der seine Fähigkeiten an seinen Helden weitergegeben hat, wäre das Buch über weite Strecken wohl kaum zu ertragen. Daanes Beobachtungen und seine Reflexionen zur Stadt, zur Vergangenheit und zum Flanieren, entschädigen den Leser für Trivialitäten und Klischees.

Ganz anders Dubravka Urgresic. In ihrem Roman Der goldene Finger bastelt sie nicht wie Nooteboom an Mythen, sondern demontiert den von der osteuropäischen Literatur zwischen Dissidententum und Untergrund-Bohème. Die Stadt Zagreb, in der sich zur Zeit des real existierenden Sozialismus Schriftsteller aus Ost und West zu einem Symposium einfinden, erscheint dabei als provinzielles Dorf. Und das Tagungshotel, in dem die Autoren untergebracht sind, dient mehr dem erotischen als dem literarischen Austausch. Denn die Damen und Herren Kulturschaffenden bestätigen ganz die Einschätzung der muffigen Bar-Dame des Zagreber Schriftstellerklubs, die einem der amerikanischen Teilnehmer, der dort vergeblich nach "Schriftstellern" und "Bohème" sucht, sagt: "Es gibt keine Schriftsteller, es gibt keine Literatur! Hier schreibt das Leben die Romane und die Dichtung ist für den Arsch".

Verglichen mit Nootebooms Allerseelen wirkt Ugresics Roman wie eine Art "Pathos-Ex". Es gibt auch in diesem Buch viele triviale Elemente, zumal nebenbei auch die Freunde der Verschwörungstheorie ganz auf ihre Kosten kommen, aber eben nicht mit dem Anspruch, "große Literatur" zu sein, sondern mit Ironie und Witz den sozialistischen Kulturbetrieb auseinander zu nehmen. Der Autorin verliert dabei die Sympathie zu ihren Figuren nicht und gleitet nie in Zynismus ab.

In der türkischen Literatur scheint die Stadt entweder aus einer Kleinstadt in der Provinz oder Istanbul zu bestehen. Aber wahrscheinlich ist dieser Eindruck den wenigen Übersetzungen türkischer Literatur geschuldet, die es in Deutschland gibt. Der Unionsverlag hat jetzt den ersten Roman des neuen Stars der türkischen Krimi-Szene, Celil Oker, übersetzen lassen. Sein Roman, Schnee am Bosporus, spielt in Istanbul und handelt vom Privatdetektiv Remzi Ünal, der einen Anruf aus eben einer dieser unzähligen Provinzstädte erhält und nach dem Neffen eines Stoffgroßhändlers suchen soll, der in Istanbul verschwunden ist. Das alles ist für die Türkei ungewöhnlich, denn Privatdetektive sind erst vor kurzem vom türkischen Parlament legalisiert worden. Und so ist denn auch die Figur Remzi Ünals amerikanischen Vorbildern nachempfunden, allerdings ohne, dass sie dabei epigonal geworden wäre. Denn die Geschichte selbst ist fest in der türkischen Wirklichkeit verwurzelt oder besser gesagt dem, was der Autor dafür hält, und sein Held ist auch kein Amerikaner, sondern ein Türke, der gern ein amerikanischer Privatdetektiv wäre.

Um ein Verbrechen geht es auch in Luigi Malerbas Roman Die Schlange. Oder hat es doch nur in der Phantasie des Erzählers stattgefunden? Der Leser wird darüber im unklaren gelassen, denn nicht nur der Kommissar, dem ein römischer Briefmarkenhändler am Ende ein Geständnis ablegt, zweifelt an seiner Glaubwürdigkeit, sondern auch der Leser, der nebenbei immer mal wieder erfährt, dass das, was er zuvor erfahren hat, nicht ganz der Wahrheit entspricht.

Ein römischer Briefmarkenhändler erzählt seine Geschichte, die die Geschichte eines Misanthropen ist. Man weiß nicht recht, weshalb er so geworden ist, aber sein Misstrauen gegenüber den Menschen scheint nicht unwesentlich Ergebnis intensiver Zeitungslektüre zu sein. Das wird besonders in dem Moment deutlich, als er mit einer Frau - Miriam - ein Verhältnis eingeht. Denn die Zeitungen berichten von Betrug und Verrat nicht nur von Frauen, sondern auch von Männern. Auch sie könnte ihn hintergangen haben, zum Beispiel mit einem seiner Kunden, der zwar nichts vor ihr weiß und sie nie gesehen hat, aber er könnte sie ja zufällig getroffen haben. Eine Schlange nistet sich in seinem Inneren ein, die es ja eigentlich in der Stadt nicht mehr geben soll, die Schlange der Eifersucht. Am Ende der Geschichte gesteht er dem Kommissar, Miriam erst vergiftet und dann verspeist zu haben. Malerba hat die eigenartige, witzige Geschichte Mitte der sechziger Jahre verfasst. Der Leser erfährt durch den paranoiden Blick des Erzählers eine Menge über die Bewohner Roms. Und - vielleicht - über Wege und Irrwege der Zivilisation. Eine Geschichte, deren Ende dann ganz italienisch mit ein paar Gourmet-Rezepten aus der Menschenfresser-Küche gewürzt ist.

Cees Nooteboom: Allerseelen, suhrkamp taschenbuch, Frankfurt a.M. 2000, 19,90 DM

Dubravka Ugresic: Der goldene Finger, suhrkamp taschenbuch, Frankfurt am Main 2000, 19,90 DM

Celil Oker: Schnee am Bosporus. Remzi Ünals erster Fall, UT metro, Zürich 2000, 14,90 DM

Luigi Malerba: Die Schlange, Wagenbach Taschenbuch, Berlin 2000, 16,80 DM

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