Vergiss mein nicht

Traditionsverweigerer Aki Shimazakis dritter Roman: "Wasurenagusa"

Kenji ist das einzige Kind der Takahashis aus Tokyo. Die männliche Linie der Familie lässt sich über 300 Jahre zurückverfolgen. Doch droht mit ihm der ununterbrochenen Erbfolge das Ende. Seine erste Ehe, die in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts geschlossen wird, bleibt ohne Kinder. Schuld daran, meint Kenjis Mutter, sei seine Frau. Weil sie die Vorwürfe ihrer Schwiegermutter nicht mehr ertragen kann, lässt sie sich nach drei Jahren scheiden. Doch dann wird sie von ihrem neuen Mann schwanger und es ist klar, dass Kenji derjenige ist, der keine Kinder zeugen kann. Trotzdem wollen seine konservativen, traditionsbewussten Eltern dies nicht wahrhaben. Als sie sich gegen eine neuerliche Heirat mit Mariko wenden, eine Frau, die Kenji in einer Kirche kennen lernt und die einen unehelichen Sohn hat, bricht er den Kontakt zu seiner Familie ab.

Auch in Wasurenagusa, dem dritten auf Deutsch erschienenen Roman der nach Kanada ausgewanderten Japanerin Aki Shimazaki, stehen Ursprung und Identität der Protagonisten im Zentrum des Geschehens. In dem 2004 veröffentlichten Roman Tsubame war es die verschwiegene koreanische Herkunft von Kenjis neuer Frau Mariko gewesen, die eigentlich "Yonhi" heißt. Ihre Mutter und ihr Onkel waren in Folge des großen Erdbebens in Tokyo 1923 Opfer eines Massakers geworden. Das Gerücht, die koreanischen Arbeitsimmigranten seien für die danach einsetzenden Plünderungen verantwortlich, kostete Tausenden von Menschen das Leben. Mariko wächst in dem Waisenhaus eines christlichen Pfarrers auf, der ihr - um sie zu schützen - den japanischen Namen gibt.

In Tsubaki, Shimazakis ersten, 2003 auf Deutsch erschienen Roman, ist es der unentdeckte Mord an ihrem Vater, der die Mutter der Erzählerin ein Leben lang belastet und den sie erst nach ihrem Tod der Tochter in einem langen Brief gesteht. Alle drei Romane sind über die handelnden Personen miteinander verbunden. Der ermordete Vater aus Tsubaki ist der Geliebte von Mariko und der Vater von deren Sohn. Und Mariko ist wiederum Erzählerin aus Tsubame.

In Wasurenagusa wird sich gegen das Schicksal am deutlichsten zur Wehr gesetzt. Die Macht des Ursprungs, die sich in der Genealogie der Takahashis ausdrückt und die die Identität jedes einzelnen Familienmitglieds bildete, wird von Kenji Takahashi durchbrochen. Er erkennt den rassistischen Charakter dieser mit dem biologischen Ursprung verknüpften Identität. Weil er eine Frau heiratet, deren Herkunft er nicht kennt und die bereits einen Sohn von einem anderen Mann hat, durchbricht er diese Macht, schwächt damit jedoch seine eigene Identität. Erleichtert wird ihm diese Entscheidung, weil er weiß, dass er unfruchtbar ist.

Wie der Protagonist, so in diesem Fall die Autorin: Auch Shimazaki hat mit den eigenen Ursprüngen gebrochen: sie verließ Japan und schreibt ihre Bücher nicht in ihrer Muttersprache, sondern auf Französisch. Doch die Themen der von ihr verfassten Bücher sind weiterhin in Japan angesiedelt und nicht etwa - wie bei der bereits in der zweiten Generation in Kanada lebenden Kerri Sakamoto - im Milieu japanischer Immigranten in der neuen Heimat. Bei beiden Autorinnen spielt jedoch die eigentümlich japanische Kultur der Scham und Verdrängung eine wichtige Rolle. Während in Sakamotos Roman Das Echo eines langen Tages die japanischen Einwanderer in Kanada während des zweiten Weltkriegs ihr Internierungsschicksal psychisch kaum verarbeitet worden ist, bestimmt in Shimazakis Wasurenagusa die Schande der Unfruchtbarkeit, über die nicht gesprochen wird, im Hintergrund das Leben.

Die Kultur der Verdrängung und des Schweigens über individuelle und die gesellschaftlichen Katastrophen drückt sich nicht zuletzt in der japanischen Neigung aus, das Leben bis in den Alltag hinein zu ästhetisieren. Mit Hilfe dieser Ästhetisierung, die für die westlichen Beobachter ihren auffälligsten Ausdruck vielleicht in der Teezeremonie und dem Blumenstecken findet, ließen sich Probleme wie die totalitären Vergangenheit des Tenno-Regimes in den dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts zumindest eine Zeitlang zum Verschwinden bringen.

Aki Shimazaki holt in ihren Büchern diese Konflikte hervor und versucht sie literarisch zu verarbeiten. Damit hat sie sich von der traditionellen Tendenz zur Harmonisierung in der japanischen Kultur entfernt. Gleichzeitig übernimmt sie aus der Tradition Japans die zentrale Bedeutung der Natur in der Kunst. Der Titel ihres ersten Romans Tsubaki bedeutet Kamelie, Tsubame bedeutet "die Schwalben" und Wasurenagusa heißt auf Deutsch "Vergissmeinnicht". Diese Blume erinnert Kenji Takahashi an seine Kinderfrau, die er nie vergessen hat und zu der er auch gegen den Wunsch seiner Eltern den Kontakt aufrechterhält. Shimmazaki erzählt an einer zentralen Stelle die Geschichte des Namens "Vergissmeinnicht": Ein Ritter wird von seiner Geliebten gebeten, ihr die blauen Blumen von einer Insel in einem reißenden Fluß zu holen. Der Ritter schwimmt zu der Insel, wirft ihr auf dem Rückweg die Blumen ans Ufer und ruft, kurz bevor er ertrinkt, "vergiss mein nicht". Gleichzeitig handelt es sich hierbei um den Ausdruck einer Naturphilosophie, bei der Natur an sich sinnvoll ist, so dass die Kinderfrau - oder im Fall von Tsubame der christliche Pfarrer - mit dem Hilfe des Vergleichs positiv aufgewertet werden.

Leider ist Wasurenagusa der schwächste der drei bisher auf Deutsch erschienen Romane. Die tragischen Ereignisse sowie die kurzen, knappen Sätze, die vor allem in Tsubaki der Gefahr der Trivialisierung entgehen konnten und durch die ambivalenten Figuren und einer spannenden Geschichte zu einem dichten Text geführt haben, bleiben in Wasurenagusa eindimensional. Kenji Takahashis Leben ist nicht ohne Probleme, aber er meistert sie auf vorbildhafte Weise. Gegen Tradition und Rassismus setzt er die christliche Nächstenliebe. Da Shimazaki konsequent aus seiner Sicht erzählt, weiß nur der Leser von Tsubaki, dass seine Frau Mariko bis 1945 noch ein Verhältnis mit dem Freund Kenji Takahashis hatte, der auch der Vater ihres Sohnes ist. Die Figuren aus Wasurenagusa wirken deshalb unglaubwürdig und die Geschichte wie eine Art Heiligenlegende mit Happy End.

Aki Shimazaki: Wasurenagusa. Roman. Aus dem Französischen von Bernd Wilczek, Antje Kunstmann, München 2005, 120 S., 14,90 EUR


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