Dem Berliner Feuilleton gilt der Zustand des Deutschen Theaters seit Monaten als Besorgnis erregend. Künstlerische Unentschlossenheit, ein Dahinsiechen an Einfallslosigkeit werden dem zukünftigen Nationaltheater attestiert. Kein Geringerer als Einar Schleef ward zu seiner Rettung auserkoren. Ihm eilt der Ruf voraus, ein schwieriger Zeitgenosse, ein brachialer, Kräfte verschleißender Dompteur von Massenszenen zu sein. Kam Schleef nun als Medizinmann, der die bösen Geister des sich in letzter Zeit häufenden Misserfolgs aus dem Gebälk des Hauses austreiben sollte, oder als Abbruchunternehmer für die traditionsreiche Berliner Bühne? Intendanz und Regisseur hüllten sich während der Proben in Schweigen. Immerhin konnte einer knappen Pressemitteilung entnommen werden, das Stück nach Texten von Nietzsche, Dwinger, Döblin und Milton trage den Titel Verratenes Volk. Premiere der Uraufführung sei Anfang Mai. Die musste allerdings verschoben werden, drei Tage zuvor erreichte eine Krankmeldung Schleefs das Deutsche Theater. Wochen später war es soweit. Auch wenn die Vorfreude die schönste Freude ist, das hauptstädtische Kulturvolk strömte nach der durchgestandenen Reizpartie erleichtert in den klassischen rot-goldenen Theatersaal und harrte der Dinge, die noch kommen sollten.
Als Erste kommt Inge Keller, der gute Geist des Ensembles. Vielmehr, sie sitzt als weißgewandete Hohepriesterin der Schauspielkunst inmitten der gleißend weißen, leeren Bühne auf einem ebenso weißen Sessel und rezitiert aus John Miltons Epos Das verloreneParadies. Die Welt nach dem Sündenfall der ersten Menschen ist eine klinisch-aseptische Ödnis, unerhört verhallen darin die Beschwörungen Evas. Von dem verlorenen Garten Eden lässt sich kein Bild machen, verschlossen bleiben seine Pforten. Mit leicht trippelnden Schritten verlässt die 75-jährige Schauspielerin die Bühne und das Publikum den Saal zur ersten Pause.
Ausgewiesene Schleef-Kenner deuten die Eva-Episode als ein Präludium für die nachfolgende Hohe Messe, die diesmal nicht unter fünf Stunden zu absolvieren ist, das hätte eine Warnung sein müssen. Doch man war in die Falle gegangen, in die Schleefsche Theaterfalle. Ab da konnte nur die bedingungslose Unterwerfung unter die Bühnen-Exerzitien des Zeremonienmeisters kommen. Und da erscheint er höchstselbst: Einar Schleef, in der einen Hand ein Glas Wasser, in der anderen einen Stapel Papier. Er hält eine Rede, mehr noch, dieser fast einstündige rauschhafte Monolog ist das Bekenntnis eines Außenseiters des Theaterbetriebs und lässt tief blicken in die Psyche eines Besessenen. Kein geringeres Werk hat er hierfür ausgewählt als Nietzsches Selbstapotheose Ecce Homo. Wie man wird, was man ist, das kurz vor dem Zusammenbruch des Philosophen entstanden ist. Warum ich ein Schicksal bin, fragt Friedrich Nietzsche alias Einar Schleef und gibt sich als Misanthrop zu erkennen, denn angreifen sei ein Zeichen des Wohlwollens, man muss Feind sein können, nur das aggressive Pathos komme gegen die deutsche Krankheit, den Idealismus an. Doch auch gegen die Betulichkeit dieses Theaters? Schleef versteht es, die Sprache als Droge zu zelebrieren. Er raunt, poltert, wispert die unbotmäßigen Sätze des mit dem Hammer Philosophierenden. Mit seinem Abgang endet auch ein Höhepunkt des Abends.
Stark abfallend hingegen ist der Auftritt der Soldaten. Aufgestellt in einer Reihe skandieren sie Edwin Erich Dwingers nationalistisch gefärbte Kriegsprosa Armee hinter Stacheldraht. Im hohlen Pathos einer unsäglichen O-Mensch-Manier wird da vom Krepieren in den Lagern und Lazaretten des Ersten Weltkrieges gesprochen. Es ist viel von Bauch-, Lungen- und Blasenschuss, von eitrigen Geschwüren die Rede. Ein Glück, dass Kaiser Wilhelm II. uns erspart bleibt, der ist nämlich laut Besetzungsliste erkrankt. Krank ist auch Rosa Luxemburg, die Säulenheilige des Sozialismus, die Jeanne d'Arc der gescheiterten Novemberrevolution von 1918. An ihr diagnostiziert der Schriftsteller und Arzt Alfred Döblin in seinem 2.000 Seiten umfangreichen, im Exil geschriebenen Roman November 1918 das Elend der deutschen Intellektuellen, ihr Zögern und Zaudern vor der historischen Umbruchsituation. Die Revolutionärin Rosa leidet im Gefängnis an einer Psychose; sie halluziniert ihren verstorbenen Geliebten Hannes herbei, während sie unter der Aufsicht von Gefängniswärterin und Arzt steht. Die Revolution endet in der Depression. Jutta Hoffmann spielt den historisch nicht verbürgten psychopathologischen Zug, die zunehmende Vereinsamung der Luxemburg mit einer verstörenden Intensität auf der Badewanne sitzend. Allein wegen dieser Protagonistin lohnt sich das dreistündige Anti-Theater, das Schleef mit allerlei deutschem Liedgut und Massenauftritten abhalten lässt. Am Ende zeigt er Rosa und Karl als zänkisches Paar, das sich um die Frühstückszeitung streitet. Es war wohl die Spießbürgerlichkeit der deutschen Sozialisten, die die Revolution - im Gegensatz zur russischen - vermasselt hat, scheint uns der Regisseur sagen zu wollen. Spekulativ hingegen bleibt der Untertitel dieses denkwürdigen erschöpfenden Theaterabends Wir sind ein Volk. Wir waren ein Volk. Verratenes Volk. Weshalb Schleef die Ereignisse von November 1989 zitiert, ohne sie je szenisch einzulösen, bleibt sein Geheimnis. Gleichviel. Am Ende der fast sechsstündigen Aufführung, irgendwann nach Mitternacht, findet das Oratorium über die sozialen und politischen Krankheiten der Deutschen seinen Schlusspunkt in einem höfischen Reigentanz aller Beteiligten auf der Bühne. Mit letzter Kraft rafft sich das Publikum zum Schlussapplaus auf, der ausdauernd und zuweilen heftig kommt, nur der Maître des Theatermarathons verweigert sich und taucht nicht auf. War er, am Ziel angekommen, endgültig zusammengebrochen? Jemand will ihn in dieser Nacht gesehen haben, in der Friedrichstraße, barfüssig, auf dem Fahrrad.
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