Die Fahrt durch die südlichen Außenbezirke von Tripolis führt an der Zerstörung vorbei, die die letzten Schlachten zwischen den Milizen in Libyens Bürgerkrieg angerichtet haben. Der Blick aus dem Autofenster offenbart zerstörte Häuser und mit Schutt übersäte Straßen, welche die Detonationen von Panzern und Raketenfeuer während der Kämpfe im September hinterlassen haben. Manche vergleichen das von Milizen kontrollierte Tripolis mit dem Chicago Al Capones, doch der Vergleich hinkt: Al Capone verfügte niemals über schwere Artillerie.
Gegner der von den UN unterstützten libyschen Regierung zu treffen, ist heutzutage nicht einfach: Ich muss unbemerkt an dem offiziellen Betreuer vorbeikommen, der mir in meinem Hotel in Tripolis zugewiesen wurde, auf die Straße hinausgehen und in einen Wagen einsteigen, der diskret um die Ecke geparkt ist. Von dort aus führt mich eine lange Fahrt durch die Nebenstraßen der Stadt, der Fahrer nimmt Abkürzungen und macht immer wieder plötzlich kehrt, um eventuelle Verfolger abzuschütteln.
In den sieben Jahren nach Muammar al-Gaddafis Sturz und Tötung hat Libyen sich durch die Revolution von der Diktatur hin zur Demokratie entwickelt, ist dann im Chaos untergegangen und so schließlich in einer neuen Form von Tyrannei angelangt. Mit der Ausnahme, dass es dieses Mal nicht nur einen Diktator gibt, sondern Dutzende, in Gestalt derjenigen Milizen, die Gaddafi gestürzt haben. Zurück sind auch die Dissidenten, und nach mehreren Tagen mit gedämpfter Stimme am Telefon habe ich ein Treffen mit einem der prominentesten, Hmeed al-Mahdi, einem Anwalt.
Durch Tripolis zu fahren, bedeutet, durch einen politischen Nebel zu navigieren: Welche der bewaffneten Gestalten in zusammengewürfelten Uniformen und verwitterten Pick-ups sind Gangster, welche die offiziellen Sicherheitskräfte der Regierung? Nach einer Weile realisiert man: Beide Gruppen sind identisch. Eine Einheit, frisch in schicke blaue Uniformen des Innenministeriums eingekleidet, bleibt eine Miliz, genauso bedrohlich wie zuvor.
Ich treffe Mahdi in seinem Haus, das er wieder aufgebaut hat, nachdem Schergen Gaddafis es als Strafe für seine oppositionelle Haltung niedergebrannt hatten. Nun ist er wieder Dissident und kritisiert die neue Tyrannei, spricht vom „Land der Chamäleons“. Gerade kommt er vom Freitagsgebet, er empfängt mich in einer eleganten weißen Dschallabija und bietet mir ein Glas stark gezuckerten Tee an, sagt: „Wir haben Gaddafi getötet, doch aus der Asche seines Leichnams wurden viele kleine Diktatoren geboren, die Anführer der Milizen.“
Gaddafis Regime war brutal, Mahdi wurde verprügelt und ins Gefängnis geworfen. Doch dort hegte er die Hoffnung, dass Libyen eines Tages frei sein würde – eine Hoffnung, die nun stirbt, da klar wird, welche Früchte die Freiheit gebracht hat. „Wir wollten nicht so werden wie er, wollten ihn nicht foltern und töten. Wohin hat uns dieses Blutvergießen gebracht? In eine tagtägliche Hölle.“ Dann senkt er den Blick: „Ich denke, die Revolution war ein Fehler.“
Jungs mit Maschinengewehren
Die UN erklärten vor drei Jahren: Die Hölle, wie sie Mahdi beschreibt, werde mit der Schaffung der Regierung der nationalen Einheit enden, die in Tripolis eingeflogen wurde, um die Stadt aus den Fängen der Bandenkriminalität zu befreien. Doch weit davon entfernt, die Milizen aufzulösen, ist die Regierung von ihnen abhängig. Tripolis’ Warlords stehen auf der Gehaltsliste des Staates, weil Bewaffnete den Bankangestellten damit drohen, sie andernfalls zu entführen. Ähnlicher Druck führte dazu, dass die Regierung ihre Geheimdienstakten an eine islamistische Miliz übergeben musste. Während die Milizen sich in der Hauptstadt gegenseitig bekriegen, kämpfen sie gleichzeitig gegen die Armee des Warlords Khalifa Haftar, des starken Manns im Osten.
Unterdessen leiden die Bürger: Benzin, Strom und Wasser sind knapp, es gibt nicht genügend Banknoten. Libyen ist reich, mit 50 Milliarden Dollar an ausländischen Reserven und einer boomenden Ölproduktion. Doch nur eine Handvoll Banken, die von den Milizen kontrollierten, dürfen Bargeld ausgeben. Vor entsprechenden Stellen bilden sich kilometerlange Schlangen.
In der Gaddafi-Ära brauchten Journalisten, die auf Besuch waren, eine Erlaubnis, um ihr Hotel verlassen zu dürfen. Jetzt brauche ich zwei – eine von der Regierung, die andere von der Miliz, die den Bezirk kontrolliert, den ich besuchen möchte. Niemand hat diese Regierung gewählt, sie wurde von einer von den UN autorisierten Kommission ernannt und hat zwei Gesichter. Eines für westliche Diplomaten, die das Land gelegentlich besuchen, um in Kameras zu lächeln und sich mit dem Premierminister fotografieren zu lassen. Das andere Gesicht wendet sie den Libyern selbst zu, und es ist nicht schön anzusehen.
„Fotografieren Sie nicht die Schlangen vor den Banken. Führen Sie keine Interviews mit den Menschen dort“, sagt mein von der Regierung gestellter Betreuer, Ishmael. Er hat Befehl, mir überallhin zu folgen, und hält eine Unmenge an Genehmigungen und Ausweisen in der Hand. Ich darf nicht mit den aggressiven jungen Männern sprechen, die draußen auf der Straße abhängen und den kurzen Hosen noch nicht lange entwachsen sind. Sie tragen teure Markenklamotten, spielen mit Maschinengewehren, während sie um ihren schwarzmetallenen Mercedes herumstehen, und wissen wie alle anderen, dass sie die eigentliche Macht hier sind.
Der Radiomoderator Ibrahim, ein weiterer Dissident, hat eine kleine Gruppe Gleichgesinnter zusammengebracht, die sich das Krisen-Komitee nennt. Man kann ihre Zusammenkünfte entweder als ehrenwert oder als vergeblich bezeichnen. Ibrahim erzählt mir, dass die Zensur im Stile Gaddafis zurückgekehrt sei: „Wir können die Regierung kritisieren, die UN oder Haftar, aber es gibt zwei Dinge, über die man besser nicht spricht: die Milizen und die Bärtigen“, die Islamisten. Mehrere Fernsehstationen wurden niedergebrannt, weil sie diese Anweisungen nicht verstanden haben und Dutzende weitere senden aus Sicherheitsgründen aus dem Ausland.
All das bringt Ibrahim zu einem resignierten Urteil. „Wir waren nicht für die Revolution bereit. Wir verfügten nicht über die Mittel, um mit dieser Freiheit umzugehen. Wir waren wie ein Kind, das lange um ein Spielzeug gebettelt und es nun endlich bekommen hat. Doch das Spielzeug war kaputt und wir wussten nicht, was wir mit den Einzelteilen anfangen sollten.“
Die Bürokratie wird in Tripolis weitgehend von denselben kontrolliert wie unter Gaddafi; etliche freuen sich darüber, dass vieles wieder so ist wie früher. „Wir sind alle grün hier in diesem Büro“, brüstet sich einer der Medienverantwortlichen und bezieht sich so auf die grüne Flagge des Diktators. „Wir wissen, wie wir mit Journalisten umgehen müssen. Das sind alle Spione.“
Die Revolution, ein Fehler
Und dann ist da die Korruption. Unter Gaddafi war sie weitverbreitet, aber zentralisiert. Heute ist sie chaotisch. Mohammed, ein 35-Jähriger, der abends in meinem Hotel arbeitet, erzählt mir, dass es in Tripolis Korruption auf allen Ebenen gebe, dass er sich aber nicht mehr länger die Mühe mache, die Fälle zu melden. „Diejenigen, denen ich die Korruption anzeigen sollte, sind genauso korrupt wie alle anderen“, sagt er. „Wahrscheinlich sogar korrupter.“
Zu Zeiten der Revolution hat Mohammed ein Gewehr aufgehoben und sich den Rebellen angeschlossen, hält das heute aber für einen Fehler: „Wenn ich könnte, würde ich diese Tage aus meinem Gedächtnis löschen. Ich weiß, Gaddafi war ein Diktator, aber wir waren nicht bereit für die Demokratie.“ Nutznießer dieser resignativen Stimmung ist Khalifa Haftar mit seinen Einheiten der „Libyschen Nationalen Armee“. Als früherer Verbündeter Gaddafis, der sich später gegen den Diktator stellte, wirft Haftar der neuen Regierung vor, den Islamisten verpflichtet zu sein. Er hat geschworen, auf Tripolis zu marschieren und die Milizen zu vertreiben. Viele unterstützen ihn, auch wenn sie Angst haben, dass er eine Militärregierung errichten könnte.
Eine seltene Meinungsumfrage, von der US-Regierung in Auftrag gegeben, besagte, dass seine Armee die beliebteste Institution in Libyen ist und mit 68 Prozent Zustimmung die Regierung (15 Prozent) um einiges in den Schatten stellt. „Im Augenblick sind wir alle resigniert“, sagt Mohammed, „und viele denken, wenn auch wehmütig, dass es besser ist, Haftar und damit wieder einen starken Mann zu haben.“
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.