Viele Hoffnungen richteten sich bei seinem Amtsantritt im Januar 2003 auf den neuen ecuadorianischen Präsidenten Lucio Gutiérrez. Als Oberst der Streitkräfte war er einer der Anführer jener Volkserhebung im Januar 2000 gewesen, die den unfähigen Präsidenten Mahuad zum Abgang gezwungen hatte. Die Regierung Gutiérrez wurde zunächst unterstützt von der Bewegung der Indígenas, den Gewerkschaften und linken Parteien. Doch alle Hoffnungen schwanden noch im ersten Amtsjahr.
Unsere Ideologie basiert auf der Solidarität und der Form des Miteinanders, die unsere Indígenas seit Jahrhunderten vorgelebt haben. Sie beflügelt uns, die ungerechten Strukturen in unserem Land zu ändern. Unsere ideologische Konzeption ist von der Tendenz her nationalistisch, progressiv, humanistisch, rechtsbezogen, revolutionär. Weil wir nicht wollen, dass unsere strategisch bedeutsamen Industrien verkauft werden. Wir wollen nicht unsere Währungssouveränität verlieren. Wir wollen nicht, dass unsere staatliche Souveränität durch den US-Stützpunkt in Manta gefährdet wird. Wir sind gegen die große Korruption innerhalb der Regierung."
So beschrieb Lucio Gutiérrez im Mai 2000, vorübergehend inhaftiert wegen der Revolte drei Monate zuvor, seine politischen Motive, die ihn an die Seite der Indigenas gebracht hatte und ihres Dachverbandes, des Consejo de Nacionalidades Indígenas del Ecuador (CONAIE), der zu dieser Zeit eine authentische Massenbewegung führte. Der ehemalige Oberst der ecuadorianischen Streitkräfte sollte sein Programm in den folgenden Jahren noch oft wiederholen, bis er am 15. Januar 2003 in den Präsidentenpalast einziehen konnte. Danach schien er vorzugsweise ein Ziel zu haben - möglichst alle Versprechen zu brechen. Schon während der Verhandlungen über die künftige Regierung mit der Indígena-Partei Pachakutik und dem linken Movimiento Popular Democrático (MPD) hatte der Präsident neoliberal orientiertes Personal für das Finanz- und Wirtschaftsministerium durchgesetzt. Allein Pachakutik bekam mit dem Außen- und dem Agrarministerium noch zwei Ressorts von politischem Gewicht. Gutiérrez arrangierte sich auch mit dem Gewerkschaftsbund CEOSL (Central Ecuatoriana de Organizaciónes Sindicales Libres) und schuf für dessen langjährigen Vorsitzenden José Chavez sogar ein neues Amt als Präsidentenberater.
Erdölland als Armenhaus
Dann allerdings erwies sich Gutiérrez als willig, die herkömmlichen, zuvor rhetorisch verfemten Rezepte anzuwenden - er flexibilisierte die Arbeitszeiten, fror die Löhne im öffentlichen Dienst ein und steigerte die Preise für Elektrizität sowie Transport. Die soziale Lage verfiel so dramatisch, dass Ende 2003 der familiäre Durchschnittsverdienst von 253 Dollar unter der offiziellen Armutsgrenze von 378 Dollar im Monat blieb. Die Erwerbslosigkeit erreichte mit 11,7 Prozent den höchsten Stand seit 1990, während die Unterbeschäftigung bei über 50 Prozent lag - vier Fünftel der Ecuadorianer lebten im Mai 2004 unterhalb der Armutsgrenze.
Als die langlebige Finanzkrise den Andenstaat Ende der neunziger Jahre an den Rand des ökonomischen Kollaps trieb, sollte die "Dollarisierung" für Rettung sorgen. Im Jahr 2000 wurde der Sucre durch den Dollar ersetzt. Lucio Gutiérrez verkauft diese Zäsur inzwischen als Erfolg; immerhin sei das Land noch zahlungsfähig - allerdings nur deshalb, wäre zu ergänzen, weil den Zins- und Tilgungszahlungen für 17 Milliarden Dollar Auslandsschulden Vorrang gegenüber sozialen Investitionen eingeräumt wird. Ein Großteil der Ecuadorianer überlebt, da mehr als zehn Prozent der Bevölkerung ins Ausland geflüchtet sind und Gelder an ihre Familien schicken - ein Transfer, der sich im Vorjahr auf beachtliche 1,6 Milliarden Dollar belief.
Nach wie vor ist Erdöl das wichtigste Exportgut und sichert ein Drittel der Staatseinnahmen. Einen jäheren Fall des Ölpreises auf dem internationalen Markt dürfte das Land kaum verkraften, schließlich verzehrt der Schuldendienst 40 Prozent der Staatsausgaben, so dass der Landwirtschaft, von der fast die Hälfte der Bevölkerung abhängt, lediglich zwei Prozent aller Haushaltsmittel zugute kommen.
Mit der Dollarisierung wurden traditionelle Exportgüter unverkäuflich - besonders Textilien, Fleisch- und Milchprodukte. Dass heute im Straßenbild der Hauptstadt Quito Handys und neue Autos zu sehen sind, hat weniger mit einem Aufschwung als dem totalen Misstrauen gegenüber den Banken zu tun. Wer mehr verdient als das Lebensnotwendige, investiert in Konsumgüter. Bei wem es weniger ist, der macht Schulden - in Quito trifft das auf 58 Prozent der Bevölkerung zu. Deren Gläubiger sind nur noch zu 30 Prozent private Kreditinstitute - die Mehrheit verlässt sich lieber auf die Kredite von Supermärkten oder informellen Geldverleihern.
Außenpolitisch geriert sich Gutiérrez unverkennbar als Gefolgsmann der USA. Über die US-Militärbasis in Manta wird längst nicht mehr debattiert, statt dessen mit einem weiteren Stützpunkt auf den Galapagos-Inseln kalkuliert. Dass Ecuador dadurch immer mehr in den kolumbianischen Bürgerkrieg verstrickt wird, dessen Regionalisierung die Vereinigten Staaten offenkundig vorantreiben, um sich ein Interventionsrecht für den ganzen Subkontinent zu verschaffen, gilt in Quito als hinnehmbarer Kollateralschaden. Der US-amerikanische wie der kolumbianische Geheimdienst operieren inzwischen ungehindert in Ecuador, wie das im Januar die Festnahme des ranghohen kolumbianischen Guerillaführers Simon Trinidad in Quito offenbarte.
Unter diesen Umständen ist das Experiment der Indios, Regierungsverantwortung mitzutragen, vorerst gescheitert. Pachakutik, MPD wie auch die Gewerkschaften traten schon nach 200 Tagen des Mitregierens desillusioniert den Rückzug an. Gutiérrez setzt seitdem auf die rechten Parteien und nimmt in Kauf, dass sich die inneren Fronten verhärten. Spätestens seit dem Anschlag auf Leonidas Iza am 1. Februar 2004 grassiert die Furcht, der "schmutzige Krieg" gegen Oppositionelle, wie er in Kolumbien wuchert, könnte auch Ecuador heimsuchen. Leonidas Iza ist Vorsitzender der CONAIE und hatte einst den Wahlsieg von Gutiérrez´ als "historisches Zeichen und als Tag der Hoffnung" gefeiert. Inzwischen steht er wie alle Indígena-Organisationen in hitziger Opposition zur Regierung.
Der CONAIE ist bis heute das Rückgrat von Pachakutik und kommt nicht umhin, ein eher zwiespältiges Resümee der Regierungsteilhabe zu ziehen. Man habe es zum ersten Mal in der Geschichte Ecuadors erlebt, dass Indígenas Ministerien übernehmen konnten, meint Leonidas Iza, aber so wertvoll diese Erfahrung auch sei, man gehe letzten Endes geschwächt aus dieser Periode hervor.
"Pachakutik verfügte über kein abgestimmtes Regierungsprogramm", analysiert Luis Macas, in der Regierung Gutiérrez 200 Tage Agrarminister für Pachakutik. "Jetzt birgt die Krise unserer Partei das Risiko, aus der politischen Landschaft zu verschwinden, sollten wir uns zu keiner Strategie durchringen, die darauf antwortet, wie ein wirklich plurinationaler Staat erreicht werden kann." Es gebe die aus der Kolonialzeit übernommenen "zwei Logiken zwischen dem Indio und dem Anderen", die eine belastbare Einheit zwischen sozialer und Indígena-Bewegung blockierten.
Der Bananen-König wartet
Mitte Februar hatte die CONAIE zu einer erneuten Mobilisierung aufgerufen, die manche schon als Anfang vom Ende des Patrons Gutiérrez deuten wollten, doch die Zahl der Teilnehmer war gering. "Selbst wenn er gestürzt wird, was kommt danach?" fragt die Menschenrechtlerin Elsie Monge. "Es fehlt an politischen Visionen und an klaren Alternativen." Pedro de la Cruz von der sozialistisch orientierten Federación Nacional der Organizaciónes Campesinas, Indígenas y Negras (FENOCIN) ist realistisch. "Die Ecuadorianer sind müde und enttäuscht, so dass die Rechte bei den nächsten Wahlen auf ein wachsendes Potenzial rechnen darf. Viele werden sagen: die Linke hat ihre Chance gehabt - und vertan, jetzt wählen wir lieber die anderen."
Der Gutiérrez bei der Präsidentschaftswahl 2003 unterlegene Bananen-König Gustavo Noboa, die "Eiserne Faust mit dem weißen Handschuh", wie er in seiner Heimatstadt Guayaquil genannt wird, wartet geduldig auf seine Chance. Lucio Gutiérrez entwickelt sich derweil zu einem selbstherrlichen Präsidenten, den eine kleine Gruppe, bestehend aus Familienangehörigen und ehemaligen Militärs, hofiert. Sein jüngerer Bruder Gilmar löste ihn Ende Februar als Vorsitzender seiner Partei, der Patriotischen Gesellschaft, ab. Schwager Napoleon Villa wird für das Aufkommen paramilitärischer Gruppen in Ecuador verantwortlich gemacht. Gutiérrez reagiert indes gereizt auf niedrige Umfragewerte und mediale Kritik. "Das Land will positive Nachrichten, will Optimismus. Alle unsere Anstrengungen werden nutzlos sein ohne die Hilfe der Medien. Deshalb Schluss mit den Skandalberichten."
Der Menschenrechtsaktivist Alexis Ponce warnt vor einer "Kolumbianisierung" Ecuadors: "Unser Staat ist schlimmer als der kolumbianische. Dort gibt es zumindest eine Guerilla, die als Gegenkraft wirkt. Hier gibt es nichts dergleichen. Früher zielte der innere Terror auf lokale Führer der Volksbewegungen, um die Reaktionen im In- und Ausland auszutesten. Heute sind die führenden Köpfe der Opposition bedroht. Und der Staat verschärft gezielt die Situation. Mir wurden kürzlich Geheimdienstdokumente zugespielt, die sehr detailliert meine Person, meine Arbeit und meine Familie beleuchten."
Schlüsseldaten Ecuadors
(Veränderung zum Vorjahr in Prozent)
in Prozent
Quelle: IWF, NZZ
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