Papa Staat

POLITISCHE KULTUR Regression auf einen vormodernen Stand

Manche, die aus den zwanghaft-wiederholten Bilderschleifen der ersten Tage nach dem Anschlag noch denkend ausbrechen wollten, fragten sich, welche politischen Vorstellungen da eigentlich miteinander in Konflikt geraten sind und wie man diese zu bewerten habe. Selbst linke Analysten kamen dabei zu einem gleichsam regierungskompatiblen Ergebnis: Dem islamischen Gesellschaftsmodell, mit "einfachem Tausch und unmittelbarer Herrschaft" ("Bahamas"), seien die bürgerlichen Gesellschaften als kleineres Übel allemal vorzuziehen.

Diesem "Optimismus", der sich letztlich auf eine - sei es auch entfremdete - Rationalität der Gesellschaften des Westens bezieht, arbeitet die öffentliche Diskussion seit einigen Tagen wirksam entgegen. Das Verhältnis zwischen Politik und BürgerInnen, das zur Zeit mit Maß- und Stellungnahmen diskursiv etabliert wird, weist signifikante vorrationale Merkmale auf. Noch vor kurzem war es zumindest offizielle Lesart, dass das Eintreten für die "demokratische Ordnung" auf rationale Übereinkunft zwischen den Beteiligten zurückzuführen sei. Jetzt aber soll die Identifikation mit dem Staat wieder "unbedingt" oder "uneingeschränkt" sein, wie es allenthalben heißt. Diese Formeln bringen nicht allein wilde Entschlossenheit zum Ausdruck, sondern suspendieren von vornherein die Aufklärung aus dem Diskurs. Gerhard Schröder bringt den Zusammenhang auf den Punkt, wenn das jeweils Verkündete für ihn "vor jeder Diskussion" feststeht.

"Großer Gott, steh´ uns bei!", titelte Bild am Tag nach dem Anschlag. Das Blatt spekuliert dabei kaum auf die Frömmigkeit seiner LeserInnen. Die Schlagzeile offenbart vielmehr ein weiteres Moment des regredierten politischen Diskurses: die Infantilisierung. Der Ruf ist der Hilfeschrei eines Kindes, das verzweifelt nach der beschützenden Vaterfigur verlangt. Mit Joschka Fischer ist auch schnell ein adoptionswilliges Elternteil gefunden. Wenn er in Washington vor die Medien tritt, hat er den Gestus des gütigen, aber strengen Vaters drauf - er hat ihn im Krieg gegen Serbien geübt. Fischer trifft einerseits den pastoralen Ton sechsmal überzeugender als bisher Rau, Thierse oder Süssmuth, aber er kann auch anders. Man sieht ihm in Rhetorik und Gestus sofort an, dass er neben der Güte auch die Waffen hat, uns wirklich vor dem Bösen zu beschützen. Auch ohne Sachverstand hat es George W. Bush sehr wohl verstanden, die ihm zukommende Rolle im Diskurs auszufüllen: Seine Kinder unter seinem großen Mantel zu versammeln und ihnen zu versichern, dass er stärker sei als der schwarze Mann.

Wenn die derzeitige Bedrohung "das Böse" heißt, dokumentiert dies eindringlich das infantile Niveau, das die politische Kultur derzeit auszeichnet. Insofern ist Herrschaft auch hier tendenziell nicht mehr über (verkehrte) Rationalität vermittelt, damit reflektierbar und, zumindest der Idee nach, legitimiert. Sie konstituiert sich vielmehr, in frappanter Ähnlichkeit zu den islamistischen Gesellschaftsstrukturen, "unmittelbar" über latente Vater-Kind-Beziehungen.

"Solidarität" ist die Unterstützung Deutschlands für Amerika vor diesem Hintergrund gerade nicht. Und kann es auch nicht sein: Sie beruhte auf einer bewusst erkannten Gemeinsamkeit mit dem Adressaten und hat nichts mit blinder Identifikation gemein. Peter Struck wusste bereits am Tag nach dem Anschlag, dass "wir alle" Amerikaner seien. Die angebliche Solidarität ist offenbar nur über die Form der Halluzination einer nationalen Einheit herstellbar. Die hier hergestellten Kollektive ähneln, bei aller Vorsicht vorschneller Gleichsetzungen, strukturell der Volksgemeinschaft: Regressive Homogenität nach innen und deren Absicherung durch die Konstruktion eines amorph-bösen Außen. Der Bezug der Menschen zueinander ist dann der rein negative der gemeinsamen Abgrenzung.

Die avisierten Maßnahmen verschärfter innenpolitischer Repression sind das Ergebnis dieser Verschiebung: Sie bilden das Muster eines patriarchalen Ordnungsstaates ab. Zudem werden sie durch die veränderte Struktur der öffentlichen Diskurse ideologisch erst ermöglicht: Papa muss tun, was er tun muss, um uns zu beschützen (auch wenn es weh tut).

Aber auch die wahlberechtigte Bevölkerung ist in dieser kriegsbedingten Zwischen-Zeit nicht untätig. Mit Ronald Schill hat sie in Hamburg genau den (Vater-)Typ gewählt, der gerade gefragt ist: Hart, aber gerecht. Die Terroristen, so scheint es dieser Tage, haben die politische Kultur vor die Aufklärung zurückgebombt. Ohne die bereitwillige Freigabe des Luftraums konnte ihnen das freilich kaum gelingen.

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