Wenn Wasser seinen Geschmack verliert

Indischer Slum zur Monsunzeit Mister Mughar lässt eisgekühlte Fanta servieren

Seit zwölf Stunden bringt der Monsun Regen in die unter Wassernot leidende Stadt. Der Himmel kennt kein Maß: der öffentliche Verkehr bricht zusammen, Straßen verschwinden, Wasserleitungen bersten - wir müssen zu Fuß die Quartiers von Dharavi durchqueren, um zum Urban Health Centre mit seinen Ambulanzen zu gelangen.

Dharavi - damit ist eine andere, von Menschenhand geschaffene Maßlosigkeit gemeint. Dharavi ist nicht nur Mumbais - wie Bombay seit einiger Zeit heißt -, sondern Asiens größter Slum, wird mir mit sarkastischem Stolz versichert. Asyl und Alptraum für eine halbe Million Menschen.

Prämien für jedes getötete Tier

Knietief waten wir durch eine trübschwarze Brühe, über deren Inhalt ich mir in diesem Moment lieber keine Gedanken mache. Die Slums, wie übrigens viele andere Stadtteile auch, besitzen kein geschlossenes Abwassersystem, stattdessen gibt es schmale, größtenteils nicht abgedeckte Kanäle entlang der Straße. Plötzlich sehe ich meinen indischen Begleiter, der wenige Schritte vor mir geht, bis zur Brust in einer dieser Rinnen versinken, braune Wolken wirbeln durch die Kloake. Ohne ein Wort der Klage, ohne einen Fluch, steigt er heraus und setzt seinen Weg fort.

Hütten mit Türen am Eingang sind in Dharavi eine Rarität, die soziale Kontrolle der Mitbewohner verhindert Diebstähle, doch kein Nachbar hindert die Ratten am Eindringen. Die Stadtverwaltung zahlt Prämien für jedes getötete Tier.

"Wenn in der Monsunzeit Wolkenbrüche niedergehen, wird mein Haus regelmäßig überflutet. Um das zu verhindern, müsste ich mein Fundament nur ein wenig erhöhen, vielleicht zehn Zentimeter, nur würde das 5.000 Rupien kosten. Soviel verdiene ich in vier Monaten", erzählt Mister Tripathi, ein Lepra-Arbeiter. "Einen Wasserhahn teile ich mit zehn weiteren Familien. Wir sind fünf und haben deshalb Anspruch auf zehn Liter pro Tag zum Waschen, Kochen und Reinigen. Außerhalb der Monsunzeit kann es weniger sein."

In den Slums von Dharavi haust nicht nur jenes städtische Elend, das durch Erwerbslosigkeit, Alkohol und Drogen, den Verlust der Familie oder Obdachlosigkeit entsteht. Nach Dharavi kommen auch die Aktiveren aus den Dörfern ringsherum - Männer, die das heimatliche Feld nicht mehr ernährt, auf der Suche nach Arbeit und Verdienst in der Metropole. Manchmal holen sie die Familie nach, manchmal kehren sie für kurze Zeit ins Dorf zurück, um die von den Eltern ausgesuchte Braut zu heiraten. Im Durchschnitt strömen täglich 300 Familien nach Mumbai und lassen Slums wie Unkraut aus dem Boden schießen.

Die Stadt dehnt sich inzwischen von ihrer Südspitze aus gesehen auf einer Länge von 80 Kilometern und soll das prosperierendste Areal Indiens sein - mit einer der ältesten Börsen Asiens, der größten Filmwirtschaft der Welt, der bedeutendsten Textilindustrie des Subkontinents. Nicht nur das Tor zum Westen, sondern auch zu den noch immer beeindruckend wohlhabenden Golfstaaten des Nahen Ostens. Bei soviel Aufstieg fällt für viele wenigstens ein Almosen ab, sei es als fliegender Händler, Touristenschlepper, Rikschafahrer, Bettler vor Tempeltoren, Schuhputzer an Hoteleinfahrten. Inzwischen leben in der Stadt 15 Millionen Menschen, zwei Drittel davon in Slums oder Shanti-Towns wie Dharavi.

Schneisen werden zu Straßen

Öffentliche Parks, der Campus der Universitäts und die Wohngebiete der gehobenen Mittelklasse werden durch Wachposten beschirmt, um wilde Besiedlungen zu vermeiden. Die finden dennoch statt, an den Rändern von Sümpfen und Schutthalden, neben Bahn- und Fabrikanlagen, auf Bürgersteigen und Plätzen. Jede sich bietende Fläche wird okkupiert durch Zuwanderer von draußen. Sie werden in ihrem Tun von einer unversehens auftauchenden Mafia bestärkt, die in Mumbai so gut wie jede Landnahme kontrolliert und sich von den Neuzugängen Baugrund und Steinhäuschen teuer bezahlen lässt. Die Mafia besticht, wenn es sein muss, ungerührt den zuständigen Beamten, so dass Räumungen unterbleiben. Schließlich erreicht ein Slum-Quartier irgendwann solche Ausmaße, dass öffentliche Forderungen nach humanitärer Hilfe und sanitärer Versorgung laut werden. Das Gebiet erhält Stromanschluss, Wasserleitungen, Abwasserkanäle, einige öffentliche Toiletten. Es ziehen die ersten Händler nach, Läden für Lebensmittel, Magazine für Stoffe öffnen, Drogisten und Juweliere kommen. Schneisen werden zu Straßen, Linienbusse durchqueren die Gegend, Schulen und Hospitäler entstehen. Kurzum, eine neue urbane Gemeinschaft wächst heran und sorgt für Beschäftigung - Slums sind das unerschöpfliche Reservoir billiger und billigster Arbeitskräfte.

Doch alles hat seinen Preis: Ein Mechanikerlehrling erzählt mir, er habe einen staatlichen Job in Aussicht mit einem bescheidenen Monatsgehalt von 1.000 Rupien für den Anfang, aber nur gegen eine "Kaution" von 7.000 Rupien, habe der Beamte hinzugefügt. Zum Vergleich: Baugrund von 15 bis 20 Quadratmeter wird je nach Lage mit 15.000 bis 50.000 Rupien veranschlagt. Viele Menschen geraten durch den Kauf auf Raten in eine lebenslange Abhängigkeit.

Das Innere einer Behausung besteht aus einem Beton- oder Terrazzo-Boden, einer Kochecke mit Aluminiumtöpfen sowie einer Waschnische, einem Bett (in der Regel für fünf bis sechs Personen), einer Leine, auf der Saris und Hosen hängen, einem Kübel für Reis, grell bunten Heiligenbildern an der Wand. Die kleinen Wohnungen werden von den Frauen peinlich sauber gehalten, die Böden mit Seifenlauge gewaschen.

In dieser Welt täglicher existenzieller Bedrohung und hoffnungslos beengter Wohnverhältnisse ist das Fernsehen mit seinen Mumbai-Soaps und Musicals neben einer naiv anmutenden Religiosität der Tempel und Schreine die einzige Chance, der Realität zu entkommen. Nach Einbruch der tropischen Nacht ist das Flackern eines Monitors aus vielen Hütten zu sehen.

Bei Mister Mughar wurde der Fußboden gar mit Teppichen ausgelegt. Er hat einen gewissen Aufstieg hinter sich, ist selbstständiger Taxifahrer und nennt ein Bajaj-Gefährt - eine dreirädrige Motorrikscha - sein Eigen. Die Kinder besuchen eine englische Grammar School. Als Zeichen seiner aufblühenden Bürgerlichkeit lässt er mir durch einen Burschen eisgekühlte Fanta bringen.

Wir erreichen schließlich das Urban Health Centre, einen schimmeligen Betonklotz mit dunklen Behandlungsräumen, einer Röntgenabteilung und Apotheke. Einmal pro Woche ist Sprechstunde für Lepra-Kranke. Der Raum, in dem die Ärzte ihre Patienten untersuchen, ist nur durch einen Vorhang vom Wartezimmer getrennt. Die Kranken stehen Schlange bis auf die Straße. Schnell muss alles gehen. Die Behandlung ist kostenlos, die Ärzte machen nicht viel Federlesens. Ein knappes Gespräch mit dem Patienten, dann wird eine Injektion verabreicht oder ein Rezept ausgeschrieben. Abgehört wird durch Hemd und Sari. Eine Ärztin hält eine riesengroße Taschenlampe ans Ohr eines Patienten. Blickdiagnosen sind die Regel. Am häufigsten treten während der Monsunzeit Durchfall, Pilzinfektionen, Krätze und Tuberkulose auf, Geschlechtskrankheiten sowieso.

Die Ärzte wirken frustriert und schimpfen über eine ungebildete Bevölkerung, die schlechte Gewohnheiten nicht aufgeben könne. Aufklärungsveranstaltungen hätten wenig Sinn, höre ich, weil die Leute entweder gar nicht kommen würden oder - wenn sie kämen - nicht zuhören und nichts begreifen könnten. "Wenn Wasser abgekocht wird, verliert es doch seinen Geschmack", gibt ein Arzt die Auffassung seiner Klientel wieder. Er sei schon froh, wenn die Tbc-Kranken mit einem Taschentuch vor dem Gesicht herumliefen, um nicht jeden zu infizieren. Beim Herausgehen sehe ich einen Menschen mit Maden auf dem Kopf. Ich übergebe mich.

Zu Tode vernachlässigt

Nachmittags kommen die Kinder in Schuluniformen mit Hefter oder Schiefertafel aus der Schule zurück, setzen sich auf die Straße, umgeben von Passanten, Fahrradfahrern, Hühnern, Hunden und machen Hausaufgaben. Man sieht Gruppen von Mädchen, die sich die Zeit vertreiben, indem sie Hände und Füße mit Henna schmücken.

"Wenn eine Familie wenig Geld hat, werden zuerst die Jungen zur Schule geschickt", hatte Doktor Pai, ein Arzt auf der Leprastation des Urban Health Centre, erzählt. "In ländlichen Gebieten werden Neugeborene, sofern es sich um Mädchen handelt, oft erstickt oder zu Tode vernachlässigt. Mädchen gelten als Belastung, da sie nach der Heirat ihre Familie verlassen, nachdem die Eltern eine opulente Hochzeit bezahlt haben."

Der zweifellos riesige Fortschritt, dass mobile Gesundheitsstationen inzwischen auch in Gebieten Indiens mit traditionell ländlich geprägter Bevölkerung Ultraschall-Untersuchungen anbieten, hat bisher vor allem eine Konsequenz: 99 Prozent der Abtreibungen außerhalb der Großstädte werden an weiblichen Föten vorgenommen.

Die Migration, rigide Heiratsvorschriften und religiöse Unterschiede, einschließlich der Reste des Kastenwesens, vertiefen zusätzlich die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, nicht zuletzt in den Metropolen. Kein Wunder, dass Mumbai auch das größte Rotlichtviertel Asiens hat, wenigstens eine viertel Million Night Queens gibt es in der Stadt. Sie sind so billig, dass sich auch ein kleiner Angestellter aus Slums wie Dharavi eine Prostituierte leisten kann.

Ich fahre mit dem Vorortzug zurück in Richtung Universität. Mein Blick aus dem Fenster fällt auf schwarz glänzende, stinkende Wasserflächen. Sie durchsetzen die Vororte wie ein Ausschlag: Sümpfe voller Fäkalien, an deren Rand Zelte aus Pappe, Planen und Lumpen aufgebaut sind, Frauen hocken davor, jemand schöpft mit einem Eimer - mir krampft es das Herz zusammen.


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