In Hessen zumindest, da ist Heinrich Heine widerlegt. Hier predigen sie nicht öffentlich Wasser und trinken heimlich Wein; hier predigen sie öffentlich Wasser und trinken öffentlich Wein. Die Kultusministerin Karin Wolff (CDU) zum Beispiel sorgte als evangelische Synodale dafür, dass es keinen wie auch immer gearteten kirchlichen Segen für homosexuelle Paare gab, um dann mitten im Wahlkampf in der für ihre emanzipatorische Leidenschaft bekannten Bild-Zeitung ihre Liebe zu ihrer schönen Masseuse zu gestehen.
Wer sollte etwas dagegen haben, wenn jemand sich aus diesen Kreisen outet? Dort erfordert das Bekenntnis zur Homosexualität ja fast noch so etwas wie Mut. Aber nach diesem Vorlauf, auch nach dem sehr befremdlichen Versuch Wolffs, ihre antidarwinist
hre antidarwinistischen Ressentiments zum Bestandteil des Biologieunterrichts zu machen, war dieser plötzliche Versuch der Kulturministerin, nun auf der Tastatur des liberalen Großstadtmilieus zu spielen, doch etwas irritierend.Doch ist das Kalkül der Ministerin wie so manch anderes der CDU in diesem hessischen Wahlgang nicht aufgegangen. Denn wer Gelegenheit hatte, auf Elternabenden, auf Elternbeiratssitzungen, auf Stadtelternbeiräten die Stimmung gegenüber der hessischen Landesregierung auszuloten, der spürte seit einigen Wochen etwas, was vor einem viertel- oder gar halben Jahr kaum denkbar war: Seit in den zum Abitur führenden Schulen in Hessen flächendeckend die Matura nach 12 und nicht mehr nach 13 Schuljahren abgelegt werden muss, sind Kinder wie Eltern überfordert und verzweifelt. Die zunächst von gar nicht so wenigen Eltern begrüßte verkürzte Schulzeit sorgt in allen Bundesländern, in denen sie eingeführt wurde (so etwa im Bayerischen), für erhebliche Verwerfungen. Wegen jener gerade von Konservativen gepflegten deutschen Ideologie, die Familie sei der Hort der Persönlichkeitsentwicklung, wird die Freizeit der Jugendlichen privat im Familienkreis und in den Vereinen organisiert. Das geht von der Ballettschule bis zu den Roten Falken, vom Sportverein bis zu den Pfadfindern, von den Reitstunden bis zum Konfirmandenunterricht, von der Jugendmusikschule bis zu abendlichem Sprayen von Graffitis. Die oftmals persönlichkeitsprägenden außerschulischen Aktivitäten, die in zivilisierten Ländern wie etwa England oder Frankreich zu einem großen Teil von den Schulen, die dort Ganztagsschulen sind, abgedeckt werden, entfallen nun zugunsten eines beschleunigten Lernens von praxisorientiertem und beruflich verwertbarem Wissen.In Hessen ist dieses Projekt dermaßen schlampig und überstürzt umgesetzt worden, dass die Wut in der Mitte der Gesellschaft angelangt ist. Eltern, die für ihre Kinder einen ähnlichen Schulabschluss wie den ihren erwartet hatten, müssen plötzlich die Abende mit dem Pauken der in der Schule nur vorgestellten Lernstoffe verbringen. Bei weitem nicht in jeder weiterführenden Schule wird ein finanzierbares Essen angeboten, das diesen Namen verdiente, teure Klaviere bleiben unbespielt, das Ballettröckchen hängt nur noch im Schrank. Kurz: Das Handtuch brennt im hessischen Reihenhäuschen.Die Verantwortung, Lernziele auch zu erreichen, bleibt bei den Familien. Ganz im Sinne der oben erwähnten deutschen Ideologie. Es sind nicht die Schulen, die dafür zu sorgen haben, dass das von ihnen geforderte Programm auch erfüllt wird, sondern die Eltern und Familien. Und da Familien in den hessischen Großstädten inzwischen eine eher verschwindende Minderheit sind, liegt diese neue Verantwortung für einen höheren Bildungsabschluss vor allem bei der allein erziehenden Frau. Dass sie das verstanden haben, ließen vor allem die weiblichen Wähler die Kultusministerin wissen.Die Tatsache, dass in der Bundesrepublik die Schule länger dauert als in manchen anderen europäischen Ländern, ist dabei nicht von der Hand zu weisen. Auch die zumindest formal noch immer gültige allgemeine Wehrpflicht setzt die jungen Männer noch einmal in einen Nachteil gegenüber Konkurrenten aus den Nachbarländern. Aber nicht der Ausgleich eines Nachteils gegenüber anderen steht im Zentrum dieser alle Bildungstraditionen verachtenden Schulpolitik der Konservativen, sondern jener schon ans Närrische grenzende Elitarismus und Selektionismus, wie er sich seit nunmehr fast 20 Jahren durch das Bildungswesen in Schulen und Hochschulen frisst.Gravierender noch als die Verwerfungen an den weiterführenden Schulen ist jener Prozess, der sich unter dem Tarnnamen Bologna (immerhin die älteste Universität des nachantiken Abendlandes) verbirgt. Unter den gleichen Vorzeichen wie bei den Schulen: Europaweite Vergleichbarkeit der Abschlüsse, Orientierung der Studiengänge auf die Bedürfnisse der immer noch so genannten Arbeitgeber, strikte Unterteilung in einen stark verschulten Bachelor- und einen etwas anspruchsvolleren anschließenden Masterstudiengang, geht es hier ans Herz der Universität. 1998 unter Mitwirkung des damaligen Bundesbildungsministers und heutigen NRW-Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers (CDU) auf den Weg gebracht, bedeutet dieser Kurs eine Abkehr von der abendländischen Tradition der universitas als möglichst allgemeiner Bildung.Waren die Auseinandersetzungen an den Hochschulen in den vergangenen Jahren vor allem geprägt von den Kämpfen gegen die Studiengebühren (die ihrerseits die Selektionsmechanismen noch verstärken), so stößt diese Abkehr von den (alt)europäischen Bildungsvorstellungen auf weit weniger öffentliche Aufmerksamkeit. Dabei findet nun wirklich die Implantierung eines erkenntnisleitenden Interesses in der Universität statt - des Interesse der Wirtschaft.Da mag es dann ein schwacher Trost und Hinweis auf die noch gültige Gewichtsverteilungen der kulturellen Hegemonie sein, wenn hessische Kultusminister es vorziehen, sich am Ende doch in den von den Achtundsechzigern gemachten Betten auszustrecken.