Seit den ersten an der Columbia Universität 1943 durchgeführten empirischen Untersuchungen des Instituts für Sozialforschung zum Antisemitismus ist bekannt, dass die Anhänger des modernen europäischen Antisemitismus keiner Erfahrung mit Juden bedürfen, um über sie massenwirksam Ressentiments zu verbreiten. Ähnlich verhält es sich mit dem neuerdings in der Presse als "neuer Antisemitismus" apostrophierten Phänomen. Die wachsende Antipathie gegenüber Juden steht häufig in direktem Zusammenhang mit der Ablehnung der Politik des Staates Israel gegenüber den Palästinensern, obwohl dürftige und verzerrte Kenntnisse über die Gesellschaft und die Politik Israels die Regel sind.
Nach den auf Befragungen von rund 2.700 Personen im Jahre 2004 beruhenden Ergebnissen des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld wollen zwar fast 70 Prozent der Deutschen nicht mehr an den Holocaust erinnert werden, jedoch über 51 Prozent stimmen einem direkten Vergleich der Politik Israels mit den Verbrechen des NS-Regimes zu. Dass sich manche globalisierungskritische Gruppe und Demonstration in Wort und Bild zuweilen auch antisemitischer Stereotypen bedient, legt eine weitere Facette der Problematik offen.
Der deutliche Anstieg antisemitischer Polemik und Übergriffe in den meisten europäischen Ländern seit der zweiten Intifada ab September 2000, aber auch die zunehmende Islamophobie bildeten den Ausgangspunkt einer Tagung in der katholischen Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart im Mai 2005, die einem vor kurzem erschienenen Sammelband zugrunde liegt. Das Anliegen der beiden Herausgeber Hansjörg Schmid und Britta Frede-Wenger, beide an der Akademie beschäftigt, besteht vor allem darin, den interreligiösen Dialog zwischen Christen, Muslimen und Juden zu versachlichen, um unter anderem "politische Folgen von Theologie mit zu bedenken" und zu fragen, "ob und, wenn ja, wie Theologie und Religion an diesen politischen Haltungen und Problemen mit beteiligt sind". Zu diesem Zweck waren vor sechs Jahren vor allem Referenten eingeladen, die das gesellschaftliche Problem des Antisemitismus aus jüdischer, christlicher und muslimischer Perspektive zumeist religionsgeschichtlich erörtern.
In ihrem einleitenden Aufsatz argumentiert die Berliner Forscherin Juliane Wetzel sozialwissenschaftlich. Sie gibt eine Bestandsaufnahme des Phänomens Antisemitismus in 15 Staaten der EU auf der Basis der Studie des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin, die von der EUMC (European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia) 2003 in Auftrag gegeben wurde. In seinem Überblick geht der Historiker und Judaist Ernst Ludwig Ehrlich auf den jeweiligen Bevölkerungsanteil von Juden in europäischen Ländern ein und beurteilt das Ausmaß ihrer verbalen und tätlichen Bedrohung. Insgesamt bewertet er das gegenwärtige Zusammenleben von Christen und Juden in Europa positiv und hofft, dass mit der Lösung des Nahostkonflikts "die islamistische Judenfeindschaft entschieden" abnehmen werde. Den alten und den neuen Antisemitismus macht der katholische Theologe und Journalist Norbert Reck zum Gegenstand seiner Analyse. Beide Phänomene führt er auf weit zurückreichende christliche Ressentiments, Schuldreflexe und Entlastungsbedürfnisse unter aktiver Beteiligung der Kirchen zurück. Für die Analyse dieser traditionsreichen Ressentiments hält er deshalb psychoanalytische Ansätze für erforderlich, ohne leider auf den 1946 von Ernst Simmel herausgegebenen, 1993 im Frankfurter Fischer-Verlag neu erschienen Sammelband Bezug zu nehmen, der die ersten soziologischen und psychoanalytischen Analysen des Antisemitismus durch das Institut für Sozialforschung enthält. Darüber hinaus fällt nicht nur an diesem Beitrag auf, dass die Autoren neuere historische Forschungen zu der bemerkenswerten Koexistenz von Juden und Christen im Früh-, zum Teil noch im Hochmittelalter und in der Frühneuzeit nach 1650 nicht berücksichtigen.
Aus muslimischer Perspektive nimmt der Jurist und Journalist Murad Hofmann Stellung, der auch im Beirat des Zentralrates der Muslime in Deutschland tätig ist. Seine aus rechtsgeschichtlicher Perspektive entworfene, weitgehend normative Schilderung einer gelungenen Koexistenz von Muslimen und Juden in Medina im 7. Jahrhundert, in Andalusien im Hochmittelalter und in Istanbul bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildet die Grundlage seiner politisch-rechtlichen Analyse des Palästina-Konflikts. Zu dessen Lösung, so der Autor, könne unter anderem die Rückbesinnung auf die gemeinsame positive Geschichte beitragen. Abschließend fordern die beiden Herausgeber eine über die im Zweiten Vatikanischen Konzil von 1965 und von der vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Juden 2001 abgegebenen Erklärungen hinausführende "Reformulierung christlicher Theologie". Voraussetzung hierfür sei die selbstkritische historische Betrachtung des Verhältnisses zwischen den drei monotheistischen Religionen.
Ihre Einschätzung, dass "die innerislamische Diskussion erst an den Anfängen steht" scheint durch die Schlichtheit der Argumentation Murad Hofmanns bestätigt zu werden. Allerdings entspricht seine dualistische, zumeist auf juristischen Argumenten beruhende Interpretation des Palästina-Konflikts keineswegs dem bereits erreichten Problembewusstsein unter Politik- und Islamwissenschaftlern wie etwa Mohssen Massarrat und Bassam Tibi. Völlig außerhalb der Betrachtung bleibt bei fast allen Autoren zudem die erklärungsbedürftige Tatsache, dass in den Massenmedien hierzulande über die Gesellschaft und den Alltag Israels nur sehr selten eingehender informiert wird. Reportagen wie die 2004 im ZDF ausgestrahlte Sendung Und jetzt, Israel der Schauspielerin Iris Berben gehören zu den wenigen rühmlichen Ausnahmen.
Hansjörg Schmid/ Britta Frede-Wenger (Hg.): Neuer Antisemitismus? Neue Herausforderung für den interreligiösen Dialog. Frank Timme, Berlin 2006, 99 S., 14,80 EUR
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