Links das Meer, rechts schroffe Felsen. Keine einzige Wolke verdunkelt den babyblauen Himmel, die Hitze des Nachmittags lässt die Luft flimmern. Die Taverne am Rand der staubbedeckten Durchgangsstraße ist das einzige Haus weit und breit. Ich sitze auf der großen, überdachten Veranda, nur wenige Tische sind besetzt. Aus dem Dunkel der Gaststube dringt griechische Musik, gelegentlich untermalt von der Piepmelodie eines Spielautomaten. An der Stirnseite der Veranda hängt ein mächtiger Fernsehbildschirm. Seine stummen Bilder zeigen ein Fußballspiel: AEK gegen Olympiakos. Oben auf dem Plastikgehäuse thront ein AEK-Wimpel.
Vor dem Lokal hält ein Mercedes. Ein graugelockter Herr im beigen Anzug betritt die Veranda, lässt sich an dem mir gegenüberliegenden Tisch nieder.
"Vassilis!", ruft die dicke Kellnerin über die Veranda, dorthin, wo ein paar Jungs Fußball spielen. "Vassilis!", ihre Stimme wird lauter, bestimmter.
Ein Kerlchen, noch dicker als die Kellnerin und vielleicht zwölf Jahre alt, verlässt seinen Torwartposten, betritt die Veranda. In seinem Rücken das Geschrei der Spielkameraden. Langsam schleppt sich der dicke Junge den Gang zwischen den Tischen entlang. Der Kellnerin, wahrscheinlich seine Mutter, reicht er bis zur Brust. Er trägt eine Hornbrille, sein braunes Haar ist zu einem lieblosen Kinder-Kurzschnitt geschoren. Zwischen seinen rosigen Wangen glimmt still ein Lächeln. Schleppenden Schrittes verschwindet er in der Küche. Zurück kehrt er mit einem großen Teller frittierter Kartoffeln und einem kleineren mit Brotscheiben. Den Kopf gesenkt, stellt er die Teller auf dem Tisch des Graugelockten ab. "Bitte sehr und guten Appetit" murmelnd, wendet er sich ab.
"Vassilis!" Der Herr winkt ihn heran, drückt ihm ein paar Brotscheiben in die Hand, nickt ihm zu. "Bring sie deiner Großmutter, dass sie sie röstet!"
Der Junge macht kehrt, schleppt sich vor das Fensterchen gleich links neben dem Bildschirm. Hinter dem Fenster arbeitet die Großmutter am Grill. Er reicht ihr die Scheiben herein.
"Vassilis, was soll das, hä? Ist ihm unser Brot nicht gut genug? Immer diese Extrawünsche, als hätte ich nichts anderes zu tun!"
Gleichmütig lässt der Junge die Schimpfkanonade der dürren, weißhaarigen Frau über sich ergehen. Schaut sie kurz vom Grill auf, gehört ihr zorniger Blick ihm allein. Sie schimpft auf ihn ein, als wären es seine Brotscheiben, die sie da grillen muss. Der Mann im Anzug ist schließlich ein zahlender Gast und über jeden Zweifel erhaben.
Das Brot ist fertig. Mit einem mürrischen "Vassilis!" reicht die Weißhaarige die gerösteten Scheiben dem Jungen, der sie dem Graugelockten bringt.
Dieser nimmt das Brot mit ernster Miene entgegen. Als sich der Junge abwenden will, gebietet er ihm erneut, zu bleiben.
"Vassilis, zieh nicht so ein Gesicht! Mach deinen Eltern keine Schande. Siehst doch, sie haben alle Hände voll zu tun."
Mit einer zackigen Handbewegung entlässt er den Jungen und widmet sich seinem Essen. Vassilis Weg führt in die Küche. Zurück kehrt er mit einer Karaffe Wein. Den Kopf gesenkt, schenkt er dem Graugelockten ein. Auch an meinem Tisch und an denen weiter hinten füllt Vassilis die Gläser auf. "Kein Gast soll je ohne ein volles Glas auf meiner Terrasse sitzen", hat ihm die Mutter eingeschärft.
Als er alle versorgt weiß, lässt er sich ächzend an einem freien Tisch nieder, wirft einen scheuen Blick auf den Fernsehbildschirm. Noch ist das Spiel nicht entschieden.
Fußball interessiert mich nicht. Ich will zahlen, winke der Kellnerin. Sie nickt, wendet den Blick zu dem dicken Jungen. "Vassilis!"
Der atmet tief ein, stützt sich auf den Armlehnen des Stuhls ab. Auf diese Weise kommt er besser hoch. Ungebrochenen Gleichmut im freundlich rosigen Gesicht, schleppt er seinen Leib in meine Richtung.
"Drei sechzig bitte, und haben Sie vielen Dank."
Mich plagt ein schlechtes Gewissen, weil er jetzt meinetwegen aufstehen musste. Ich zähle die Münzen genau ab, schlage ein ordentliches Trinkgeld drauf. Womöglich bemerken es die Alten nicht, und Vassilis kann das Geld behalten.
Vielleicht spart er es, bis er eines schönen Tages genug beisammen hat, um mit dem Bus zum Hafen und mit der Fähre rüber aufs Festland, in die Hauptstadt zu fahren. Dorthin, wo niemand seinen Namen bellt, um ihn jederzeit vom Spiel zur unbezahlten Arbeit zu rufen. "Vassislis Garden" wird es heißen, sein Restaurant, und seinen Sohn schickt er nicht zu AEK, sondern zu Olympiakos. Fußballstar soll er werden - wenn er das will!
Frank Nussbücker, geboren 1967 in Jena, Spüler, Aktmodell, Erntehelfer und Mitarbeiter einer Mitfahrzentrale. Seit 1995 Autor, vor allem von Kurzprosa.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.