Das Urteil des Internationalen Gerichtshofes (IGH) im Verfahren Bosnien-Herzegowina gegen Serbien hat in der vergangenen Woche heftige Reaktionen in den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien ausgelöst. Bosnische Opferverbände zeigten sich enttäuscht, in Belgrad herrschte Erleichterung vor. Nach dem Streit um Für und Wider der Balkankriege, drängt sich auch hierzulande die Frage nach moralischen Schlussfolgerungen aus dem Urteil auf. Um dessen Komplexität zu verstehen, muss man aber wissen, dass die Wirkungsmöglichkeit des IGH begrenzt ist: Er kann nur tätig werden kann, wenn die Streitparteien seine Gerichtsbarkeit akzeptieren. Anders als das Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien und der Internationale Strafgerichtshof entscheidet der IGH nicht über die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Personen für Kriegsverbrechen, sondern ausschließlich über Rechtsstreitigkeiten zwischen Staaten. Ihm geht es darum, völkerrechtswidrige Handlungen Organen des jeweiligen Staates zuzurechnen und nicht um individuelle Verantwortlichkeiten.
Das jetzt beendete Verfahren wurde im Jahr 1993 eingeleitet, im Juli 1996 erklärte der IGH die Klage für zulässig. Jedoch schränkte er ein: Die Zuständigkeit beruhe ausschließlich auf einer Schiedsklausel in der Völkermordkonvention von 1948. Eine Untersuchung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit war dem höchsten UN-Gericht damit verwährt. Zu den Besonderheiten des Verfahrens zählte der es begleitende Staatenzerfall; das abschließende Urteil erging nun ausschließlich gegen Serbien, den alleinigen Rechtsnachfolger der Bundesrepublik Jugoslawien.
Der IGH kam zu dem Ergebnis, dass die Ermordung von über 7.000 Männern und Jungen in Srebrenica im Juli 1995 ein Völkermord war. Verantwortlich seien die bosnischen Serben, Serbien könne der Völkermord aber nicht direkt zugerechnet werden. Verstoßen habe die serbische Seite gegen ihre Verpflichtungen aus der Genozidkonvention, weil sie nicht alles Erforderliche getan habe, um den Völkermord zu verhindern. Andere in den Jahren 1992-95 in Bosnien verübte Verbrechen seien kein Völkermord gewesen, was den IGH daran hindere, diese zu bewerten. Dass die von westlichen Kommentatoren salomonisch genannte Entscheidung in Sarajevo überwiegend mit Unverständnis aufgenommen wurde, kann nicht verwundern. Es ist den Opfern ethnischer Säuberungen nicht zu vermitteln, dass der IGH die Frage der Verantwortlichkeit für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bei seiner Betrachtung ausklammern muss.
Fragen werfen auch die Ausführungen des IGH zur direkten Verantwortung Serbiens für die in Bosnien verübten Verbrechen auf. Die bosnischen Serben hätten ohne die Unterstützung Jugoslawiens den Krieg nicht führen können, die bosnisch-serbische Armee wurde fast ausschließlich mit Material und Personal der jugoslawischen Volksarmee ausgestattet. So stellte der Jugoslawien-Strafgerichtshof bereits im Jahr 1999 fest, dass Jugoslawien die effektive Kontrolle über die Armee der bosnischen Serben ausübte. Diese Verstrickung wurde erst unlängst erneut in einem Bericht von Human Rights Watch dokumentiert, der Aussagen aus dem Milosevic-Prozess auswertete. In diesem Punkt folgt der IGH dem Jugoslawien-Strafgerichtshof nicht. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Belgrad nicht alles in seiner Macht stehende getan hat, um den Völkermord zu verhindern. Die Richter waren also überzeugt, dass Slobodan Milosevic im Vorfeld über den geplanten Völkermord informiert war. Hier liegt der Schwachpunkt der Entscheidung: Dass Milosevic als Präsident Serbiens eine von ihm ausgerüstete Armee nicht am Völkermord hinderte, kann man durchaus als direkte Beihilfe durch Unterlassen auffassen. Für die Prozessführung Bosniens erwies sich dabei als verhängnisvoll, dass es nicht mehr zu einem Urteil des Strafgerichtshofes gegen Slobodan Milosevic gekommen ist. Wäre Milosevic wegen Völkermordes verurteilt worden, hätte der IGH sicherlich eine mutigere Entscheidung gefällt.
Darüber hinaus macht das Urteil vor allem eines deutlich: Obwohl der IGH erstmals eine Entscheidung zur Verantwortung für Völkermord traf, gibt es fast 60 Jahre nach der Verabschiedung der Genozidkonvention noch kein wirksames Instrument, um Völkermord zu verhindern. Damit bleibt nur die Hoffnung der Angehörigen von Opfern, dass die Hauptverantwortlichen bestraft werden.
Der Autor ist Rechtsanwalt. Seine Dissertation Der Tatbestand des Genozids im Völkerstrafrecht ist im Universitätsverlag Leipzig erschienen.
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