Vor zwanzig Jahren, am 25. August 1980, begann in New York eine dreiwöchige Sondersitzung der UN-Vollversammlung. Ihr Gegenstand: Eine Neue Internationale Wirtschaftsordnung. Beinahe auf den Tag genau zehn Jahre danach verkündete George Bush am 11. September 1990 in einer Rede vor beiden Häusern des Kongresses die Morgendämmerung einer Neuen Weltordnung. Wenige Stunden später begannen die finalen Vorbereitungen für den Golfkrieg gegen den Irak.
Seit der Genfer UN-Konferenz über Handel und Entwicklung im Jahr 1964 hatten sich die Länder der Dritten Welt um eine Reform des internationalen Wirtschaftsregimes bemüht, damit der in der Welt produzierte Reichtum gerechter verteilt werden sollte. Nachdem in den siebziger Jahren das politische und ökonomische Gewicht der Entwicklungsländer in der Welt gestärkt worden war, sollte nun ein Sonderplenum der Vereinten Nationen endlich den nötigen Druck auf die westlichen Industrieländer machen, um die Reform in die Tat umzusetzen.
Während die achtziger Jahre den kapitalistischen Ländern des Nordens - allen voran den USA - Wachstum und ökonomische Entwicklung bescherten, brachten sie für die Zweite und Dritte Welt das ökonomische Desaster. Besonders die Länder Afrikas - bis dahin in der politischen Bewegung der Entwicklungsländer prominent vertreten - brachen auf eine Weise ein, die dessen Führer bald von einem »verlorenen Jahrzehnt« sprechen ließen. Mit dem ökonomischen Niedergang sank das politische Gewicht der Entwicklungsländer. Von ernsthaften Verhandlungen über eine Neue Internationale Wirtschaftsordnung konnte nun keine Rede mehr sein, zumal der Westen erst mit teurer »Nachrüstung«, dann ab 1985 mit der teilnehmenden Beobachtung der zerbröselnden Sowjetunion politisch voll ausgelastet war.
Als dann in den Jahren 1989 -91 die bipolare Bedrohungsordnung des Kalten Krieges durch den Rücktritt der Junior-Supermacht aufgelöst wurde, waren Euphorie und Friedensoptimismus nicht nur im Westen die zunächst vorherrschenden Emotionen. Im Osten regte die marxistische Staatsintelligenz treuherzig an, dass sich Ost und West in gleichberechtigter Kooperation mit der Lösung der »globalen Probleme« befassen könnten. Im Süden aber regte sich die Hoffnung, der Westen wäre nun - nachdem die militärische Bedrohung durch die Sowjetunion vorüber war - bereit, sich wieder ernsthaft mit den Problemen einer gerechteren internationalen Wirtschaftsordnung zu befassen. Und beinahe überall glaubte man, dass die neunziger Jahre zur Dekade der Vereinten Nationen werden würden. Solche Erwartungen, die natürlich vor allem an sein Land gerichtet waren, blieben dem damaligen US-Präsidenten George Bush nicht verborgen Sein rhetorischer Begriff Neue Weltordnung bediente zwei semantische Bezugssysteme, ein nationales und ein internationales.
Den außenpolitischen Eliten seines eigenen Landes meldete der Präsident damit stolz den Erfolg der konsensualen Strategie amerikanischer Weltpolitik seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs: nämlich die finale Annäherung an jenes freihändlerische Weltsystem eines handels- und wirtschaftspolitischen Multilateralismus, das Woodrow Wilson 1919 mit seinem »idealistischen« Völkerbundsvorschlag angestrebt hatte. Dessen Vision scheiterte zunächst an den »Isolationisten« im US-Kongress, wurde dann aber nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Bezeichnung »liberaler Internationalismus« gleichsam zur offiziellen Nachkriegsstrategie erhoben.
Während der Zeit der Systemkonkurrenz war der liberale Internationalismus symbiotisch verbunden mit der militärischen Eindämmungsdoktrin und verlor dadurch etwas von seiner moralischen Unschuld. Bushs Neue Weltordnung sollte nun ein von der Eindämmungsdoktrin befreiter liberaler Internationalismus sein.
Von all dem wusste das internationale Publikum wenig, und wenn doch, dann teilte es die Idee häufig nicht. Deswegen versuchte Bush dem Rest der Welt gegenüber rhetorisch zu suggerieren, seine Neue Weltordnung sei so etwas wie die Umsetzung der Neuen Internationalen Wirtschaftsordnung. In Wirklichkeit aber handelte es sich um deren schroffe Zurückweisung.
Streng genommen meint Neue Weltordnung nämlich überhaupt keine Ordnung, sondern einen Euphemismus für Unordnung. Es handelt sich um die dürre Idee eines prinzipiell unregulierten Weltkapitalismus, in dem allein die allgemeinen Produktions- und Austauschbedingungen kodifiziert und militärisch überwacht werden sollen. Eine Art liberaler Nachtwächterstaat auf globaler Ebene sozusagen, imaginiert nach dem Modell unseres Sonnensystems: mit einem leuchtenden Fixstern, einer Reihe von Planeten und vielen, vielen Satelliten. Aber die Gesetze der Schwerkraft sind für alle gleich!
Bezeichnend für die praktische Funktionsweise dieser Neuen Weltordnung war nicht erst die militärische Aktion gegenüber dem Irak selbst, sondern bereits die Art und Weise, wie vorher in der UNO eine Entscheidung zugunsten des amerikanischen Einsatzes herbeigeführt worden war. Jedem Entwicklungsland im Sicherheitsrat wurden spezielle wirtschaftliche und militärische Hilfsangebote gemacht. Die VR China erhielt eine Woche nach ihrer Stimmenthaltung 114 Millionen US-Dollar Wirtschaftshilfe von der Weltbank. Dem Botschafter des Jemen (damals das einzige arabische Land im Sicherheitsrat), der gegen die Resolution gestimmt hatte, wurde für alle Welt hörbar mitgeteilt, dass »dies die teuerste Nein-Stimme werden würde, die Sie jemals abgegeben haben«. Drei Tage später strich die US-Regierung ihr 70-Millionen-Dollar-Hilfspaket für den Jemen, eines der ärmsten Länder der Region.
Im Golfkrieg inaugurierte sich das amerikanische Militär im Auftrag der UNO und live vor den Augen der »Weltgemeinschaft» als unaufhaltbare Nemesis für jeden Schurken, der sich nicht an diese Regeln halten sollte. Der acht Jahre später folgende NATO-Krieg gegen Jugoslawien ist als vorläufiger Abschluss dieser Inaugurationsphase zu sehen. Hier ging es zusätzlich darum, die Westeuropäer und vor allem die Deutschen als loyale Hilfstruppen in das wilsonistische Projekt mit einzubeziehen; was vor allem deshalb glänzend gelang, weil ehemalige deutsche Friedensbewegte sich maßgeblich daran beteiligten, ihren neuen amerikanischen Freunden Jugoslawien/Serbien als »Zivilisationsfeind« einzureden. Nur durch diese Moralisierung des Kriegseinsatzes konnte das »Out of area«-Tabu deutscher Linker gebrochen werden.
Seit zehn Jahren haben wir nun die Neue Weltordnung als sich formierenden wilsonistischen Nachtwächterstaat eines globalen Kapitalismus. Ein globaler Prozess vertikaler ökonomischer Polarisierung - ideologisch und militärisch abgesichert von den USA, aber gefördert und betrieben von den Regierungen und Eigentümerklassen aller westlichen Industrieländer. Ökonomische Gewinner sind die neuen globalen Mittelklassen, und Verlierer sind überall die lohnabhängigen Massen. Das Bemerkenswerteste aber ist, wie schnell moralisches Denken und die geltenden Wertsysteme in großen Teilen der Welt dabei quasi gleichgeschaltet wurden.
Jeder will heute offiziell die »Marktwirtschaft«. Und die Neue Weltordnung ist schlicht von den USA hegemonisierte und überwachte globale Marktwirtschaft. Diejenigen, die sie Kapitalismus-immanent kritisieren, sollten bedenken: Was soll an deren Stelle? Wäre eine Hegemonie durch Deutschland oder etwa die EU besser? Oder gar eine Konkurrenz gegenseitig abgeschotteter kapitalistischer Großräume, wie sie die Nazis beabsichtigten? Es gibt nur einen logisch und politisch überzeugenden Weg, das US-kontrollierte kapitalistische Weltsystem in Frage zu stellen. Nicht als Antiamerikanismus, sondern im Zusammenhang mit einer an die Wurzeln gehenden Kritik des Kapitalismus. Für diese gibt es nach wie vor gute Gründe, nur stehen die gegenwärtig nicht mehr zur Debatte. Wer aber über den Kapitalismus nicht reden will, der soll über die Neue Weltordnung schweigen!
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