Westafrika stirbt - Europa schläft

Plädoyer für einen neuen Marschall-Plan Ansonsten werden wir ernten, was wir gesät haben

Heuschreckenplage - das klingt harmlos und ist doch so furchtbar, dass es den Tod von Millionen Menschen bedeuten kann. Anfangs forderte die Welternährungsorganisation (FAO) in Rom den geringen Betrag von neun Millionen Dollar, um die Heuschrecken in Westafrika zwischen dem Tschad und Senegal bekämpfen zu können. Doch die internationale Gemeinschaft war dazu nicht bereit.

Jetzt ist die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten: vier Fünftel der Ernte in Mauretanien sind zerstört, kaum anders stellt sich die Lage in Mali dar. Die Heuschrecken haben sich inzwischen von Senegal bis nach Nigeria und in den Tschad vorgefressen und eine unvorstellbare Spur der Verwüstung hinterlassen. Sie könnten auch die Krisenregionen Darfur im Sudan erreichen, sie könnten sogar über Saudi-Arabien bis nach Afghanistan, Pakistan und Indien vordringen. Der Krieg der Heuschrecken beginnt, sich zu globalisieren.

Gegen das absehbare Unheil haben die Franzosen ein einziges Flugzeug, das ein Pflanzengift versprüht, in den Senegal geschickt. Der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Die USA haben im Irak "Wichtigeres" zu tun, als in Afrika Heuschrecken zu bekämpfen. Europa lässt seinen Nachbarkontinent wieder einmal im Stich.

Ein Heuschreckenschwarm hat bis zu 100 Millionen gefräßige Tiere. Allein im August kamen über 200 Schwärme von Senegal nach Mauretanien, das sind Milliarden "Feinde", wie die Menschen in Mauretanien inzwischen sagen. Eine Heuschrecke frisst jeden Tag etwa so viel, wie sie selbst wiegt. Viele Bauern in Westafrika glauben: "Eine Ernte wird es dieses Jahr nicht geben." Millionen Afrikaner haben schon jetzt fast nichts mehr zu essen.

Wer fände sich unter diesem Umständen zu einem Marschallplan für Afrika bereit? Klaus Töpfer, der in Nairobi die Umweltbehörde der UNO leitet, hat soeben erneut darauf verwiesen, dass es auf dem Schwarzen Kontinent bereits mehrere Millionen Umweltflüchtlinge gibt. Menschen, von denen die meisten auf der Suche nach der nächsten Wasserquelle unterwegs sind. Der Mangel an Wasser ist vor allem dem Treibhauseffekt zu verdanken, für den nicht die Afrikaner, sondern im Wesentlichen die Industriestaaten zuständig sind. Ein Afrikaner verbrennt ein Zwanzigstel dessen an Kohle, Gas, Öl oder Benzin, womit ein Mitteleuropäer die Luft verpestet. In allen afrikanischen Staaten zusammen gibt es weniger Pkw als im Bundesland Nordrhein-Westfalen. Deshalb sagt Klaus Töpfer als der in den Vereinten Nationen ranghöchste deutsche Politiker: "Wir machen uns einer ökologischen Aggression schuldig. Die Umweltflüchtlinge werden uns eines Tages überrennen, wenn wir nicht rasch handeln."

Die Vorboten dieser neuen Fluchtbewegung erreichten in diesem Sommer die Mittelmeeranrainer Italien und Spanien. Allein in den letzten Julitagen haben über 1.000 Auswanderer aus Afrika versucht, nach einer abenteuerlichen Flucht mit untauglichen Schlauchbooten in Süditalien wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Wie geht Europa mit ihnen um?

Wenn künftig irgendein Frachter auf Schiffbrüchige im Mittelmeer trifft, dann sollte der Kapitän wegschauen und möglichst rasch die Weite des Meeres suchen. Dass er dabei weltweit gültiges Recht der christlichen Seefahrt verletzt und sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig macht, dürfte ihm vermutlich weniger Ärger verschaffen als dem Kapitän des Schiffes Cap Anamur, der kürzlich in Italien fünf Tage lang inhaftiert war, weil er Menschen half, die in eine lebensbedrohliche Lage geraten waren.

Europas Innenminister wissen nur zu gut, dass im Mittelmeer jährlich Hunderte, wenn nicht Tausende, auf der Flucht nach Europa ertrinken. Doch Italien hat die 37 Cap Anamur-Flüchtlinge wieder abgeschoben, und Otto Schily plädiert dafür, die afrikanischen Probleme in Afrika zu lösen - Europa dürfe den schwarzen Kontinent nicht allein lassen. Letzteres mag vielversprechend klingen, ist aber nichts weiter als eine Verschleierung eigenen Nichtstuns. Die Regierungen Kohl und Schröder haben immer wieder angekündigt, die deutsche Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts zu erhöhen - nichts dergleichen ist geschehen. Wir geben heute etwa ein gutes Drittel dessen, was einst versprochen war: 0,28 Prozent des BSP.

Bundespräsident Köhler erklärte in seiner Antrittsrede, der Lackmustest für europäische Humanität sei Afrika. Tatsache ist, dass in Afrika jährlich Millionen Menschen verdursten und verhungern, während wir uns über Flaschenpfand und Zahnersatz erregen. Nur kann es dem reichen Europa langfristig nicht gut gehen, wenn es dem armen Afrika immer noch schlechter geht. Vor 25 Jahren hatte das Schiff Cap Anamur über 10.000 Boat People aus dem Südchinesischen Meer gerettet. Die Zuschauer der Sendung report spendeten damals über 20 Millionen Mark, damit den Schiffbrüchigen geholfen und die Geretteten in Deutschland aufgenommen werden konnten.

Von dieser Solidarität ist heute kaum noch etwas zu spüren. Die Weltgemeinschaft hatte sich vor vier Jahren das "Millenniumsziel" gesetzt, bis 2015 die Zahl der Hungernden und Verhungernden zu halbieren. Zwischenzeitlich besteht kein Zweifel mehr: In Afrika, dem Kontinent vor der europäischen Haustür, wird dieses Ziel in dramatischer Weise verfehlt. Wenn das Jahr 2004 zu Ende geht, werden pro Tag durchschnittlich 26.000 Menschen in den Ländern der Dritten Welt verhungert sein.

Die vier reichsten US-Bürger verfügen heute über mehr Geld als die eine Milliarde der Ärmsten dieser Welt. Allein das US-Militär verbraucht augenblicklich in 32 Stunden mehr finanzielle Ressourcen, als den Vereinten Nationen in einem Jahr für Friedens- und humanitären Missionen zur Verfügung steht. Wer das analysiert, dem bleibt nur ein Fazit: Die Überwindung des afrikanischen Elends ist politisch nicht gewollt - doch auch hier gilt, dass wir ernten werden, was wir gesät haben.

Denn Hilfe für Afrika ist nicht nur eine Frage christlicher Nächsten- und Fernstenliebe, auch der politischen Klugheit. Wer den Terror effektiv bekämpfen will, muss lernen: Brot und Bildung statt Bomben! Wassernotstand, Kindersterblichkeit, Aids, ein kümmerliches Erziehungssystem, ein akuter Energiemangel trotz intensiver Sonneneinstrahlung - daran krankt Afrika mehr denn je. Eine soeben publizierte UN-Studie sagt aus, dass 42 Prozent aller Afrikaner südlich der Sahara Wasser aus verschmutzten Quellen trinken müssen. Die aber sind mit Würmern und anderen Krankheitserregern durchsetzt, so dass bei Millionen Menschen tödliche Epidemien ausgelöst werden können. Alle acht Sekunden stirbt weltweit ein Kind an den Folgen verseuchten Wassers - so rechnet die zitierte UN-Studie vor. Auch dieses Elend sorgt für die aktuellen Fluchtwellen.

So wie die USA nach 1945 erfolgreich einen Marschallplan zum Wiederaufbau Westeuropas organisierten, so kann und muss Europa heute einen Marschallplan für Afrika auf die Beine stellen. Wir sind das unserem Nachbarkontinent allein schon deshalb schuldig, weil alle großen europäischen Nationen eine koloniale Vergangenheit in Afrika haben - allen voran England und Frankreich, ebenso Belgien und Italien, Spanien und Portugal sowie - wenn auch weniger gewichtig - Deutschland in Südwestafrika. Pflichteifrige Lippenbekenntnisse über eine koloniale Schuld allein vertreiben die Geister der Vergangenheit nicht - praktische Hilfe für Afrika in dieser katastrophalen Situation ist gefragt.

1960 hatte Präsident John F. Kennedy eine ganze Generation mit seiner Idee vom "Friedenskorps" begeistert - ein "Marschallplan für Afrika", dem sich Europa verschreibt, könnte heute ähnliche Emotionen auslösen. Denn die Afrikaner schaffen es nicht allein. Hunderte sterben jeden Tag im Sudan. Noch mehr werden es sein, sollte die UNO dort kein schlüssiges Konzept durchsetzen können. Die bisherigen Resolutionen des Sicherheitsrates zu Darfur wirken hilflos, weil Russland und China, aber auch Großbritannien und Frankreich ihren Ölgeschäften mit der Regierung in Khartum nachgehen. Öl als Schmierstoff der herrschenden Verhältnisse ist - wieder einmal - wichtiger als das Menschenrecht auf Leben, die Rettung von über einer Million Flüchtlingen.

Die Elfenbeinküste, einst Motor der westafrikanischen Wirtschaft, wird heute durch ethnisch motivierte Gewaltorgien zerrissen (s. Seite 5). In Liberia warten Zehntausende von Kindersoldaten im Alter zwischen 10 und 16 auf den nächsten Kampfeinsatz - dem geschundenen Land mit dem schönen Namen fehlt jede Perspektive. Im Kongo sind neue Verteilungskämpfe um die an Bodenschätzen reichen Regionen ausgebrochen. Nigeria lebt mit latenten Spannungen. Mali und Burkino Faso sind hoffnungslos verarmt. Verfügt Afrika über keine eigenen Selbstheilungskräfte mehr?

Richtig ist, dass der Westen stets zu mehr Eigenverantwortung ermuntert hat. Richtig ist aber auch, dass Europa nicht einem Erdteil den Rücken kehren darf, an dem es sich über Jahrhunderte hinweg zu bereichern verstand. Ein effektiver Marschallplan für Afrika kann freilich nicht heißen, wir verdoppeln oder verdreifachen einfach unsere Entwicklungshilfe und geben das Geld den leider oft korrupten Regierungen. Europäisches Humankapital für Afrikas Entwicklung erscheint viel wichtiger, vor allem die Jugend Europas muss Afrika entdecken.

Zwei Beispiele: Deutsche Installateure und Techniker könnten dafür sorgen, dass in vielen afrikanischen Ländern weniger Wasser in veralteten Leitungen verloren geht. Allein in Nairobi wären durch eine bessere Infrastruktur für Wasser 40 Prozent mehr sauberes Trinkwasser zu gewinnen. Oder: Wenn die bisherigen Energiequellen zusehends erschöpft und in ihrer Erschließung immer teurer werden (für die meisten Afrikaner sind die augenblicklichen Öl- und Benzinpreise ohnehin unbezahlbar), aber Afrika über Sonne, Wind und Biomasse in so reichem Maße verfügt - warum bilden wir dann nicht in Europa und in Afrika Hunderttausende junger Leute aus, die gerade diese Energiequellen anzapfen können, um sie für Afrika und Europa nutzbar zu machen?

Es wäre denkbar, dass Europas Industriestaaten aus Afrika solar erzeugten Wasserstoff beziehen, anstatt Kriege um Öl zu führen. Umweltfreundlich wären solche Geschäfte allemal - für beide Kontinente. Eine derartige Hilfe zur Selbsthilfe in Afrika böte zugleich die große Chance, den Treibhauseffekt zu bekämpfen, der uns alle bedroht. Ein effizienter europäischer Marshallplan für Afrika erscheint dann sinnvoll, wenn er sich genau auf diese Schwerpunkte konzentriert: Wasser, Energie, eine effiziente Landwirtschaft, damit Afrika aus seinem Elend heraus geholfen wird. So zu verfahren, wäre einfach eine Frage europäischer Selbstachtung.

Weitere Informationen unter: www.sonnenseite.com


Franz Alt ...

... promovierte 1967 über Konrad Adenauer und trat ein Jahr später aus der CDU aus, der er "mangelnde ökologische Sensibilität" vorwarf. Ab 1969 arbeitete er beim Südwestfunk (SWF) und war ab 1972 Redaktionsleiter und Moderator des Magazins report, das er entscheidend prägte. Große Aufmerksamkeit erzielten seine 1980 gesendeten Reportagen über somalische und äthiopische Flüchtlingskinder. Wegen seines Einsatzes für die Anti-Atombewegung geriet Alt mehrfach in Konflikt mit dem SWF-Intendanten. 1991 zog er sich von report zurück und übernahm bis zu seiner Pensionierung 2003 die Sendungen Querdenker und Grenzenlos auf 3Sat. Er schrieb Bücher zu psychologischen und vor allem energiepolitischen Themen, unter anderem; Das ökologische Wirtschaftswunder (1997) und Krieg um Öl oder Frieden durch die Sonne (2002). Franz Alt ist Träger des Adolf-Grimme-Preises und des Europäischen Solarpreises.

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