NEUE MEDIEN Die Medienbranche propagiert die »Wissensgesellschaft«. Aber das Verständnis der neuen Generation von Bildern bewegt sich noch weitgehend auf dem Niveau eines visuellen Analphabetentums
»Wissensnetze« und »Networks of Competence«, »wissensbasierte Unternehmen« und »Chief Knowledge Officers«, »Wissensstoffwechsel« und »Knowledge business als Kerngeschäft« - dies sind nur einige Kostproben der gerade aktuellen Wissensrhetorik, die das Wörtchen aus sechs Buchstaben als erfolgreichen Trendbegriff für das 21. Jahrhundert mit pragmatischen Zielsetzungen unterfüttert. Die Rede ist vom Aufbruch in die »Wissensgesellschaft«, die im Zeichen von Globalisierung, Digitalisierung und Beschleunigung ihre Chancen wahren möchte und zu diesem Zweck Menschen- und Maschinenwissen als unerschöpfliche, aber vermeintlich zu wenig genutzte Ressource neu bewerten will.
Experten sehen in Unternehmen
ternehmen und Organisationen mögliche Steigerungsraten der Wissenseffizienz von siebzig Prozent. Die industrielle Transformation menschlicher Kopfarbeit in marktfähige Wissensdestillate verspricht konkurrenzentscheidende Produktivitätsfortschritte und steigert Börsenwerte. Die staatliche Bildungsbürokratie drängt die Universitäten und Fachhochschulen, ihre Wissensvermittlung und Wissensproduktion nach unternehmerischen Gesichtspunkten zu optimieren. Für Großforschungseinrichtungen wie das »Forschungszentrum Informationstechnik der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung« in Birlinghoven bei Bonn ist die Richtung klar: Informationstechnik ist die treibende Kraft des Umbruchs von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. Gefragt sind dabei nicht große Wahrheiten, sondern Lösungen für aktuelle Probleme oder Innovationen, die neue Märkte schaffen.Solche und weiterreichende Einblicke in eine vor allem ökonomisch motivierte Gesellschaftsutopie mitsamt ihres rhetorischen Überbaus, der Klarheit und Klärung verspricht, gab jüngst auch die 3. Medienbiennale, die Anfang Februar im Internationalen Congreß Center der Neuen Messe München von der »Burda-Akademie zum dritten Jahrtausend« veranstaltet wurde. Das Kongreßthema »Envisioning Knowledge - Die Wissensgesellschaft und die neuen Medien« spiegelte dabei die naheliegende These, daß Wissen sich vor allem im multimedialen Dialog von Text und Bild zeigen müsse, um in einer durch die digitalen Medien immer nachhaltiger geprägten Produktions- und Distributionssphäre wirksam zu werden.Unter der thematischen Vorgabe dieser mit über eintausend Teilnehmern sehr gut besuchten und hochrangig besetzten Veranstaltung zeigte sich vor allem zweierlei: Zum Einen die Auffassung, daß dem digitalen Bild bei der Erschließung und Verwertung von Wissen eine hervorragende Bedeutung zukommen werde. Und zum Andern der wenig hinterfragte Glaube, daß akkumuliertes Wissen im Griff effektiver Management-Strategien als genau dosierbarer Brennstoff den Geschäftserfolg in neue Dimensionen führen müsse.Dabei verdient die verführerische Aussicht auf eine florierende Wissensökonomie in naher Zukunft gerade dann genaue Kritik, wenn man der Auffassung anhängt, daß Utopien heute zugleich ihre marktwirtschaftliche Fundierung mitliefern müssen, wenn sie überhaupt ernst genommen werden wollen. Angesichts von Technostreß und Infosmog, die nach aktuellen Untersuchungen zu einer neuen Computerskepsis führen, ist es möglicherweise nicht damit getan, einer selbsternannten »Infociety« nun das Etikett der Wissensgesellschaft überzustülpen mit dem Ziel, über die Neupositionierung von Informationstechnologien rückläufige Nachfragen zu beleben. Die in kaufkräftigen Mittelschichten zu beobachtende Sehnsucht nach einer neuen Einfachheit könnte Anlaß sein, puristische Konsumgewohnheiten auch auf die Methoden der Wissensakquisition zu übertragen. Nicht tiefbohrendes »Data Mining« oder die Beschleunigung im »Knowledge-Loop« zwischen Wissenserzeugung, Wissenspräsentation und Wissensanwendung stünden dann im Fokus der Aufmerksamkeit, sondern eine Kultur des Vergessens mit nachdenklichem Gespür für lähmenden Info-Überschuß. Oder die Fähigkeit, möglichst präzise jene Leerstellen zu umschreiben, wo Erkenntnis fehlt und nötig ist. Kurzum: Weniger die Reduktion menschlicher »Brainware« auf die Funktionalität eines nicht ausgeschöpften Wissensspeichers, sondern die Option des Menschen auf Denk- und Handlungsfähigkeit wäre dann das zentrale Thema für innovative Medienentwicklungen.Hubert Burda, Initiator der Medienbiennale und wegweisende Triebkraft seiner Akademie, läßt als rühriger und in Medienfragen besonders ambitionierter Verleger keine Gelegenheit aus, die heikle Schnittstelle zwischen Wissen und Handeln, zwischen Mensch und Computer plastisch zu markieren. Im »Pictural Turn«, der historisch vorbereiteten und medientechnologisch forcierten Wende zum Bild, sieht Burda den entscheidenden Brückenschlag, um die immer komplexeren gesellschaftlichen Verhältnisse visuell zugänglich und fruchtbar zu machen. Die buchstäbliche Nähe zwischen Wissen und Vision, zwischen erkennendem Sehen und dem bilderschaffenden Blick ist dabei schon etymologisch vorgezeichnet. Und inzwischen sind die visuell dominierten Diskurse oder das bildnerische Denken, wie es einst ein Paul Klee in seiner Künstler-Kosmogenie noch ganz subjektiv imaginierte, längst dabei, sich im Erkenntnis-, Entwicklungs- und Produktionsprozeß von Wissenschaft, Technik und Industrie auf breiter Front nützlich zu machen. Bis allerdings - jenseits von Entertainment, Werbung und anderen Formen visueller Massen- und Hochkultur - der gesellschaftliche und nicht zuletzt auch der wirtschaftliche Nutzen komplexer Bildsprachen für die Formulierung und Durchsetzung ganzheitlicher Wirklichkeitsentwürfe erkannt sein werden, bis dahin ist es noch ein weiter Weg.Wer Augen hatte, um zu sehen, bekam auf dem Münchner Kongreß innerhalb eines dreißig-Minuten-Referats hochspezialisiert und dennoch beispielhaft vorgeführt, wohin die Perspektive der neuen Bilder und die intelligente Nutzung modernster Hochtechnologie zu führen vermag. Hans-Florian Zeilshofer, leitender Oberarzt der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie der Technischen Universität München demonstrierte die heutigen Möglichkeiten, schlimmste Schädelfehlbildungen und Gesichtsdeformationen operativ zu korrigieren. Das zehntelmillimeter genaue Zusammenspiel von computertomografischen Diagnoseverfahren, 3D-Visualisierung des anatomischen Bestandes, seine Umsetzung in Stereolithografiemodelle im Rapid-Prototyping-Verfahren und schließlich die operative Korrektur auf der Grundlage vorangegangener Simulationen und paßgenauer Implantate verbindet mathematische Präzision, informationstechnisches Know How und chirurgisches Erfahrungswissen auf höchstem Niveau. Und im Ergebnis gelingt es, den betroffenen Patienten ihr Gesicht und ihren Lebensmut zurückzugeben.Dieses Beispiel ist viel mehr als eine ebenso eindrucksvolle wie produktive Überschneidung der virtuellen Realität des Bildes mit wirklicher und wirksamer Wirklichkeit. Es enthält alle Elemente einer, auch metaphorisch ausdeutbaren Theorie über den gravierend anderen Status des Bildes im Zeitalter seiner digitalen Transformierbarkeit. Die Methode des computergestützten 3D-Scannings dematerialisiert eine unzugängliche Realität in den genau lokalisierbaren Anschauungsraum eines nun kalkuliert veränderbaren Datensatzes. Ein menschlicher Kopf, jetzt weiter gedacht als ein Realteil dieser Welt, wird in seinen Imaginärteil gespiegelt, aber ohne daß dabei die funktionalen Beziehungen zwischen diesen beiden Hemissphären verloren gehen. Genau die Erhaltung dieser Beziehungen erlaubt es, daß die Simulationen und synthetischen Bilder aus der Sphäre der Technoimagination in die Realität zurückwirken und sie erweitern. Virtual und Augmented Reality bilden eine komplexe Symbiose. An ihren Grenzflächen wird das Bild zum Eingreifort und - hier - in der Rematerialisierung eines Kunstharzmodells sogar zum plastischen Interface, von dem aus die Wiederherstellung eines unverzerrten menschlichen Antlitzes möglich wird.Die Rasterflächen der Screens oszillieren heute zwitterhaft zwischen dem angestammten Platz der Bilder und dem sich ausdehnenden Zwischenraum des Interface. Sie geben sich aus als Projektions- und Rückprojektionsfläche für Imagination oder als Handlungsorte und Tools, die Blick und Hand auf tätige und eingreifende Veränderung richten. Entlang dieser Grenzflächen entfaltet sich schließlich der mediale Raum mit seinen hybriden Übergängen zwischen vormals getrennten Gattungen, entfernten Disziplinen und unterschiedlichsten Wirklichkeitskonzepten. Hierin liegt auch der tiefere Grund, warum die von dem bekannten Hirnforscher Ernst Pöppel geforderte Kooperation zwischen begrifflichen, bildlichen und Handlungswissen in der interdisziplinären Arbeit am Bild den größten gemeinsamen Nenner findet.Daß diese notwendige Arbeit an einer neuen und durchaus noch unverstandenen Generation des Bildes so zwingend und umfassend wie lange nicht mehr mit Bildung zu tun haben würde, auch darüber wurde in München diskutiert. Geführt wurde eine Diskussion, die ohne Überraschung im Vakuum der deutschen Bildungswirklichkeit schnell in sich zerfiel. Immerhin wurde am Rande deutlich, daß die drängenden Nachfragen nach neuem Bildwissen und medialer Kompetenz, jedenfalls da, wo dies profitabel ist, von privaten Bildungsanbietern befriedigt werden wird.Schon Anfang der Neunziger Jahre beschrieb der Konstanzer Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Jürgen Mittelstraß unsere Welt als eine Leonardo-Welt. Im Gefolge der entdeckerfreudigen Columbus-Welt und der interpretationsgewaltigen Leibniz-Welt kann sich diese Leonardo-Welt, von Generation zu Generation, im fortgesetzten Dialog zwischen Technik, Wissenschaft und Kunst nur noch selbst entdecken, selbst ausdeuten und muß sich dabei immer wieder neu erfinden und gestalten.Sollte sich allerdings diese unsere Welt im selbst geschaffenen medialen Zauber und der hermetischen Falle nur noch virtueller Bilderwelten anästhesieren und für die Lösung der unabweisbaren und existenzbedrohenden Problemlagen unempfindlich machen, dann wird sich weder für die Burda-Akademie noch für den Rest der Welt im dritten Jahrtausend die Zukunftsfrage stellen.Vor zweieinhalb Jahren stellte Klaus Kreimeier in dieser Zeitung die Frage, was wir künftig mit den Bildern anfangen werden, wenn wir sie nicht mehr als Abbilder benutzen können. Eine Antwort könnte lauten: Wir formen sie zu Leitbildern um, die unser Wissen auf die Zukunft orientieren. Und wir nutzen sie als Interfaces, durch die hindurch wir diese Zukunft gestalten, ohne uns dabei den Imperativen unserer Zeit zu entziehen.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.