Die Liberalen und das neue „Wir-Gefühl“

Interview Gerhart Baum, stellvertretender Parteivorsitzender der FDP, über Umweltschutz, Intellektuelle und seine Macht in der FPD
Ausgabe 45/2015
Die Liberalen und das neue „Wir-Gefühl“

Bild: Archiv/der Freitag

Freitag: Die FDP hat auf der Präsidiumssitzung am Montag dieser Woche eine Reihe von Grundgesetzänderungen für die nächste Legislaturperiode vorgeschlagen.

Gerhart Baum: Das ist das Staatsziel Umweltschutz, die Kulturstaatlichkeit im Grundgesetz, der Verzicht auf AEG-Waffen und die präzise Bestimmung. dass deutsche Streitkräfte sich nur an Friedensaktionen der Vereinten Nationen beteiligen können. Darüber hinaus wollen wir diskutieren über das Bund-Länder-Verhältnis, die Finanzverfassung, die Stärkung des Parlamentarismus und andere Fragen.

Sind aus dem Staatsziel „Umweltschutz“ nach Ihrem Verständnis einklagbare Rechte abzuleiten?

Wir denken nicht daran, einklagbare Rechte in das Grundgesetz aufzunehmen, da wir die repräsentative Demokratie nicht schwächen wollen.

Können Sie diese Forderungen nicht eher mit der SPD verwirklichen?

Sie lassen sich zum Teil mit der CDU, zu einem anderen Teil mit der SPD verwirklichen. Man wird sich unter den Parteien verständigen müssen, da ja für alles, auch für die Volksabstimmung eine Zweidrittel-Mehrheit erforderlich ist.

Eine solche Volksabstimmung ist letztlich nur ein bestätigender Akt. Denken Sie an andere Formen der Einbeziehung von Bürgern im Vorfeld?

Das Parlament kann zu seiner Meinungsbildung Experten heranziehen, um die Pluralität der Meinung zur Geltung zur bringen. Denkbar wäre beispielsweise eine dem Entscheidungsprozess vorgeschaltete Enquete-Kommission.

Bei vielen Differenzen im Konkreten, zum Beispiel in der Frage der Einbeziehung der Bürger oder der Basis, kenne ich eine Reihe grüner Politikerinnen und Politiker, die mit Ihren Vorstellungen in Ihre Partei passen und dort in den sechziger Jahren Mitglied geworden wären.

Dem liegt eine interessante Beobachtung zugrunde: Leute, die jahrelang in sehr starker Kritik zu diesem Staat gestanden haben, erkennen, dass sie in diesem Lande doch eine Menge bewirkt haben und entwickeln daraus sogar ein „Wir-Gefühl“ für die Bundesrepublik; zum Beispiel eine hohe Identifikation mit dem Grundgesetz.

Wenn sie bislang nicht Mitglied bei der FDP wurden, so liegt das sicher an mangelnder geistiger Auszahlung Ihrer Partei.

Sicher ist unsere intellektuelle Ausstrahlung nicht wie in den siebziger Jahren. Ich frage allerdings, ob die Zeit nicht insgesamt nüchterner geworden ist. Bei allen Parteien steht eine pragmatische Gegenwartsbewältigung im Vordergrund. Ich erinnere an Habermas, der resigniert über die neuen Unübersichtlichkeiten klagt. An Dahrendorf. der nach den großen Entwürfen der siebziger Jahre zur offenen Gesellschaft zunehmend Schwierigkeiten hatte, die Politik noch mit Ideen zu unterlegen. Oder nehmen sie die programmatischen Entwürfe der SPD, die sich ja damit große Mühe gemacht hat. Wen interessieren die? Wie weit sind Intellektuelle überhaupt noch am politischen Diskurs beteiligt?

Sicher gibt es allgemeine Entwicklungen Aber sprechen wir über lhre Partei.

Uns fehlen heute Persönlichkeiten wie Dahrendorf oder Karl Herrmann Flach. Wir überlegen immer wieder, dass eine liberale Partei stärker, als wir es tun, vordenken müsste. Aber wer macht das? Wir hatten noch 1982 eine sehr starke Substanz an solchen Leuten. Viele von ihnen sind heute politisch heimatlos. Meine Überlegung war, die Partei für sie wieder attraktiv zu machen.

Wie wollen Sie das machen?

Das geht nur durch Politik. Nicht durch Veränderung der Koalition. Genscher hat das mit seiner Außenpolitik geschafft. Er hat intellektuell wieder gebunden, denken Sie an Ihre Kollegen von der Zeit, die Genschers Politik intellektuell begleitet haben.

Für die Außenpolitik trifft das sicher zu. Aber nach den Wahlen werden innenpolitische Themen viel stärker an Gewicht gewinnen.

Wir haben in unserer Partei unbemerkt von der Öffentlichkeit eine sehr intensive Debatte über Grundsätze einer ökologischen Politik für die neunziger Jahre geführt. Eine Partei, die sich so stark wie wir der Wirtschaftspolitik verpflichtet fühlt, muss die ökologische Marktwirtschaft zu ihrem Thema machen. In den täglichen Entscheidungen der Wirtschaftspolitik, der Verkehrs-, Finanz- und Steuerpolitik, der Energiepolitik müssen ökologische Fragen ein prägendes Gewicht erhalten.

Eine Partei in Regierungverantwortung wird nicht in erster Linie nach ihren Konzepten beurteilt, sondern danach, wie sie sie umsetzt.

In der Tat werden wir daran gemessen, was wir daraus machen. Die Koalitionsverhandlungen für die nächste Legislaturperiode müssen in die Richtung gehen, nicht mehr nur einen punktuellen. sondern einen überragenden weltweiten Ansatz des Umweltschutzes zu erreichen, wie ihn Genscher jetzt vor der UNO ausgeführt hat. Es geht hier um Weltinnenpolitik. Die ökologischen Probleme und das Wohlstandsgefälle werden zu wichtigen Themen der auswärtigen Beziehungen werden.

Wollen Sie, auch vor diesem Hintergrund, nach den Bundestagswahlen Minister werden?

Das liegt nicht an mir. Ich fülle meine Rolle als Abgeordneter aus.

Nach den letzten Bundestagswahlen sind Sie gegen Minister Engelhardt angetreten...

...und ziemlich auf die Nase gefallen. Die Fraktion hatte sich für einen anderen Kurs entschieden. Eher für Konsens als für Konflikt. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass die Wähler wissen müssen, warum die FDP eine selbständige Partei in der Koalition ist.

Kohl signalisiert kältere Zeiten für die nächste Legislaturperiode.

Mag sein. Natürlich gibt es nach einer solchen langen Phase der Koalition gewisse Abnutzungserscheinungen. Aber die Schlüsselfrage bleiben die Gemeinsamkeiten. Ich habe mich nie gescheut, übrigens auch zusammen mit Genscher und anderen, Gemeinsamkeiten zur Opposition bis hin zu den Grünen festzustellen. Das ist ja die Aufgabe der FDP. Die Union kann das nur schwer. Und wir müssen das auch als Beweis unserer Unabhängigkeit tun. Und sicher sind im Bereich der Rechtspolitik die Gemeinsamkeiten mit der SPD größer. Aber für den ganzen Bereich der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik bleiben die Gemeinsamkeiten mit der Union immer noch sehr stark. Und der Einigungsprozess hat das natürlich verstärkt.

Sind Sie denn noch sozialliberal?

Ja.

Was verstehen Sie darunter?

Da bin ich etwas sentimental. Das ist das Bekenntnis zu meiner politischen Vergangenheit und der Wunsch, Sozialpolitik stärker zur Geltung zu bringen in meiner Partei. Was Koalitionsalternativen angeht, so bedaure ich, dass die Sozialdemokraten solche Schwierigkeiten haben, in der Mitte mehrheitsfähig zu werden und sich als Alternative aufzubauen. Denn der Regierungswechsel gehört zur Funktionsfähigkeit unserer Gesellschaft.

Lafontaine bemüht sich durchaus, die Mitte zu besetzen.

Er ist nicht beständig. Er irritiert. Doch zurück zu Ihrer Ausgangsfrage. Unter sozialliberal verstehe ich eine Bandbreite des Liberalismus, der die Bürgerrechte genauso ernst nimmt wie den Schutz der kleinen und mittleren Betriebe im Wettbewerb gegenüber den großen. Aus Rücksicht auf den Koalitionspartner vertreten wir viele Fragen nicht stark genug. Man zögert, sich Niederlagen einzuhandeln. Ich nenne ein Beispiel, wo wir es dennoch machen: Wir sind in unserem Wahlprogramm für die Abschaffung des Paragraphen 175. Ich bin eben dafür. liberale Standpunkte auf allen Feldern zu vertreten, auch wenn es dem Koalitionspartner nicht gefällt. Ich bin aus einem Lebensgefühl heraus Mitglied der liberalen Partei. Ich will freiheitliche Grundeinstellungen in allen Lebensbereichen vertreten. Die Konfliktbereitschaft der FDP gegenüber dem Koalitionspartner darf nicht allein in wirtschaftsliberalen Fragen zur Geltung kommen, sondern auch bei Bürgerrechtsfragen.

Wie groß ist Ihr Einfluss in der Partei?

Nach meinem Auftreten gegen einen Regierungswechsel im Jahre 1982 war ich politisch nicht viel wert. Ich war zwar ganz knapp zum stellvertretenden Vorsitzenden der FDP gewählt worden, aber ich konnte in den Gremien gar nichts bewirken. Ich störte einfach das Bild. Es war eine schwere Zeit. Es gab dauernd Konflikte. Ich war in der undankbaren Position, dass man oft nur dagegen war, den ganzen Zug anhielt und Krach mit dem Parteivorsitzenden bekam, der mit Kohl etwas ausgehandelt hatte. Das hat sich langsam wieder verändert, unter anderem mit Genschers Hilfe. Er hat Hirsch und mich gegen Zimmermann unterstützt. Ich wollte mit meiner Entscheidung weiterzumachen die Fragen des Auslander- oder Asylrechts, den ganzen innen- und rechtspolitischen Bereich, auch den Umweltschutz, der nicht viele aktive Vertreter in der Fraktion hat, nicht den anderen überlassen.

Immerhin schreibt Strauß in seinen Memoiren, dass es unmöglich gewesen sei, Ihren Einfluss zum Verschwinden zu bringen.

Ich hatte damals große Skepsis, ob wir das Kernstück der sozialliberalen Koalition, die Außenpolitik, fortsetzen können. Das ist hervorragend gelungen. Ich bin Genscher, dem ich wieder sehr nahe gekommen bin, dafür sehr dankbar.

In Brandenburg gibt es die erste Ampelkoalition. Halten Sie das auch in westdeutschen Bundesländern für möglich?

Das kommt auf die politischen Übereinstimmungen im Einzelfall an. Für den Bund halte ich es nicht für möglich. In Brandenburg ist eine gute Koalitionsvereinbarung möglich gewesen. Nun wird man sehen, wie das funktioniert.

Dieser Text erschien am 9. November 1990 in der ersten Ausgabe des Freitag

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