„Wogegen sollen wir uns verteidigen?“, fragte eine der älteren Frauen. „Na, wenn dich jemand angreift. Lernst du Techniken, kannst du kämpfen, zackzack!“ Die junge Türkin boxte in die Luft und alle lachten. Ich saß zwischen 16 türkischstämmigen Frauen aus Berlin-Wedding, die zu unserem Selbstverteidigungskurs gekommen waren. Die Frauen kannten sich vom Kochen im Kulturhaus und hatten dort von unserem Angebot erfahren.
Mein Freund Ivo gibt seit 15 Jahren Selbstverteidigungskurse, nicht nur für Frauen. Ich leite Kinderkurse. Und so war die Idee entstanden, gemeinsam einen Selbstverteidigungskurs für türkischstämmige Frauen anzubieten. Unser Projektantrag hörte sich professionell an, die Kosten waren gering und er wurde schnell bewilligt.
„Es soll nicht nur ums Kämpfen gehen, sondern vor allem darum, sich selbstbewusst zu bewegen“, erklärte Ivo der jungen Frau, die in die Luft geboxt hatte. So hatten wir es in unserer Ausbildung als Sicherheits- und Persönlichkeitstrainer gelernt. Dass unsere Vorstellungen aber nicht so leicht interkulturell anwendbar waren, merkten wir in der ersten Kursstunde.
„Habt ihr denn eine Vorstellung davon, was wir machen?“, fragte Ivo. Die Frauen zuckten mit den Schultern und schüttelten die Köpfe. „Kampftechniken?“ – „Auch“, sagte Ivo und fragte, ob es sein könne, dass sie sich manchmal aus Höflichkeit in unangenehme Situationen brächten. Die Türkinnen wussten nicht, was er meinte. Deutsche Teilnehmerinnen lächeln bei dieser Frage wissend. Sie kennen die Momente, in denen man nein sagen müsste und es nicht tut. Bedrängnissituationen im Büro, im Nachtclub, in der Familie – wenn sie davon erzählen, leitet Ivo das Gespräch leicht zu dem Punkt, dass wir mit gefestigtem Selbstvertrauen gar nicht erst in Notsituationen kommen. Nur für den Fall, dass es doch passiert, lernt man Abwehrtechniken.
Erwartungsvolle Blicke
Den türkischen Frauen musste Ivo erst erklären, was er meinte, obwohl er natürlich genau wusste, dass es fatal ist, einen Kurs zu beginnen, indem man den Teilnehmerinnen ein Problem andient, was sie offenbar gar nicht kennen. Deutsche Frauen begeben sich beim Betreten des Sportraums schnell in eine ernste, aber eher defensive Lernhaltung. Die Türkinnen verbreiteten eine lebhafte Stimmung und machten einen selbstbewussten Eindruck. Sie sahen Ivo erwartungsvoll an – er machte in seiner Ratlosigkeit einfach weiter.
„Habt ihr schon mal eine Bedrängnissituation erlebt, in der es euch schwerfiel, nein zu sagen?“ Die Frauen überlegten. Nein, das kannten sie eigentlich nicht. Ich wusste, worauf Ivo hinaus wollte: die Sache mit der aufrechten Körperhaltung, dem direkten Blickkontakt und der festen Stimme. Er gab nicht auf. „Wie können wir reagieren, wenn wir abends auf der Straße das Gefühl haben, jemand läuft uns ständig hinterher?“ Die Türkinnen verstanden die Frage nicht. Keine von ihnen ist abends allein unterwegs. „Und wenn doch“, sagte eine junge Frau: „Umdrehn, ansehen: Ey, was willst du von mir! Und dann die Techniken!“ Wieder lachten alle.
Normalerweise werden Möglichkeiten besprochen, mit der Situation umzugehen: Stehen bleiben und die Person vorbeilaufen lassen. Oder: umdrehen und direkt fragen: „Gehen sie mir hinterher?“ Oder die Person bitten, vorbeizugehen. Außerdem wird erklärt, was man nicht tun sollte: Nicht schneller laufen. In keinen Hausflur gehen. Keine Angst zeigen. Das fiel jetzt alles weg.
Ivo zog seine Schutzrüstung an. Nach dem Aufwärmen durften die Frauen mit Ellenbogenschlag, Handkantenstoß und Fußtritt auf Ivos Brustpanzer einhauen, was ihnen sichtlich Spaß machte. Sie hatten auch keine Schwierigkeiten mit aufrechter Körperhaltung und direktem Blickkontakt. Zurück im Kreis fragte Ivo, wie es war. Außer Atem nickten alle belustigt.
Immerhin – dieser Teil des Kurses funktionierte genauso wie mit deutschen Frauen. Doch als Ivo den Hausaufgabenzettel austeilte, wurde der Unterschied wieder deutlich. „Überlegt doch abends mal, ob ihr am Tag auch was für euch selbst gemacht habt – oder wieder nur was für Kinder, Mann und Haushalt.“ Die Frauen sahen ihn verständnislos an. „Is’ normal, dass man alles macht für Kinder, Mann und Haushalt. Wir gehen ins Hamam oder shoppen, das machen wir nur für uns.“ „Prima, schreib das mal bitte auf“, sagte Ivo, und wir beide ahnten, dass sie es wohl nicht aufschreiben würde.
Als die Frauen weg waren, kam es uns vor, als wären wir die Schüler gewesen und die Türkinnen hätten das Training geleitet. Ivo sagte: „Wir müssen den Kurs mischen. Wir brauchen noch ein paar Frauen von der anderen Seite der Brunnenstraße, ein paar Deutsche.“ Beim nächsten Kurstag merkten wir, dass unser Kurs ohne neu dazugewonnene deutsche Frauen fast leer gewesen wäre. Nur drei Türkinnen kamen wieder. Dafür ging der Kurs problemlos in die vorgesehene Richtung. Die Augen leuchteten, wenn die Frauen „Nein!“ brüllen durften, so laut sie konnten – allein vor allen anderen. Das tat gut. Die Hausaufgabe verlangte diesmal, die eigene Körpersprache zu beobachten: Wie verhalten wir uns, wenn wir etwas durchsetzen wollen? Eine Türkin erzählte: „Meine Oma hat immer gesagt: ‚Wasch deinem Mann die Füße, dann sag ihm, dass du Geld brauchst.‘ Klappt immer!“ Sie erzählte das stolz. Ein deutsches Mädchen erwiderte: „Äääh! Was ist das denn bitte für ’ne Lösung?“ Die Türkin: „Wir machen’s so, ihr macht’s so. Das ist meine Meinung.“
Ivo sagte nichts.
Die Füße waschende Türkin kam nicht mehr zum dritten Kurstag. Die beiden übrig gebliebenen Türkinnen hielten sich zurück. Ivo zog den Kurs durch wie gewohnt. Aber ich merkte, dass ihn etwas erschüttert hatte. Er hatte Selbstbewusstsein immer für eine allmächtige Waffe gehalten. Frauen stark zu machen, ist seine Mission, und jetzt schwebte diese Ahnung im Raum, dass auch das nur eine Teillösung sein könnte.
Nach dem letzten Kurstag kam eine Türkin zu mir: „Weißt du, ich hab euch beneidet. Ihr könnt zu dem einen Mann nein sagen – und zu einem anderen ja. Aber jetzt verstehe ich: Es ist viel schwerer. Es gibt da viel mehr Probleme.“ Sie winkte ab, lachte, bedankte sich und ging. Ich erzählte es Ivo. Er nickte betrübt. Die türkischen Frauen brauchten unser Selbstbewusstsein nicht. Sie hatten ihr eigenes. Sie schienen in ihrer Kultur, die wir oft als unfrei empfinden, stärker zu sein als wir in unserer Freiheit.
Im eigenen Hausflur
Wir gingen zum Abschluss mit den Frauen essen. Es wurde gelacht, geplappert. Dann erzählte eine ältere Frau etwas sehr Ernstes: Sie war mit Ende zwanzig im eigenen Hausflur vergewaltigt worden. Mann und Kinder schliefen drei Stockwerke höher. Seitdem hatte sie panische Angst vor Hausfluren und Kellern. Der Vergewaltiger hatte sich damals hinter der Kellertür versteckt. Sie war starr vor Angst gewesen. Vielleicht hätten ihr die Abwehrtechniken helfen können. Vielleicht auch nicht.
Schwer fiel es ihr nicht, davon zu berichten. Sie hatte es oft erzählt, aber sie wollte sich im Kurs nicht gleich selbst abstempeln. „Ja, geht mir auch so“, sagte die jüngste Teilnehmerin. Es war die letzte Türkin in der Runde. Sie war 18. Sie rollte ihre Serviette zwischen den Fingern und sagte: „Ich bin meine halbe Kindheit lang von unserem Nachbarn missbraucht worden. Musste ihm Kuchen bringen einmal die Woche.“ Sie sah in unsere entsetzten Gesichter und zuckte mit den Schultern. Ihre Tante habe ihr geholfen, den Missbrauch zu stoppen. Sie fühlte sich trotzdem lange schuldig und brauchte eine Therapie, um endlich wütend auf den Täter sein zu können.
„Wie geht man in der türkischen Kultur mit sexuellem Missbrauch um?“, fragte Ivo. Die junge Türkin sagte: „Na, genauso wie überall. Am liebsten will’s keiner wissen“. Wir redeten noch lange. Die Runde wurde kleiner, das Zusammengehörigkeitsgefühl größer. Dann gingen wir durch die Nacht, mit neuem Selbstbewusstsein und den Armen gegenseitig um unsere Schultern. Wir fühlten uns stark und stolz.
Franziska Hauser arbeitet als Autorin und Fotografin in Berlin. Außerdem gibt sie Selbstverteidigungskurse für Kinder.
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