In einer grauen Vorzeit wurden fußballbegeisterte Intellektuelle verachtet, später dann nur noch ihre Bücher. Auch das ist so gut wie vorbei. Inzwischen deuten sich sogar Allianzen an, etwa wenn Philipp Lahm seine Autobiografie im Kunstmann-Verlag erscheinen lässt und dadurch an seinem Image als Feingeist arbeitet. Der Fußball ist, dieser Artikel ist ein weiterer Beleg dafür, längst in den Feuilletons angekommen.
Bedauerlicherweise führt diese Entwicklung dazu, dass Autoren, die erkennbar keine Ahnung vom Thema haben und sich auch gar nicht damit befassen wollen, anfangen, sich trotzdem genötigt zu fühlen, es irgendwie literarisch aufzuarbeiten. Auf dem Cover von Jean-Philippe Toussaints neuester Veröffentlichung steht einerseits sein Name und andererseits, ein bisschen größer, Fußball.
Das Wort Fußball hätte man getrost streichen können. Es geht in diesem Buch fast ausschließlich um Jean-Philippe Toussaint. Wo er ist, was er isst, wen er trifft. In der Kurzfassung: Er hat sich einmal bei einer Grätsche den Arm gebrochen (schlimmschlimm), er ist nur sehr selten im Stadion, aber wenn doch, dann bei den großen Spielen (wichtigwichtig), zur WM 2010 war er in Le Mans, mit Jeff Koons (tolltoll). Wer sich für Jean-Philippe Toussaint interessiert, wird mit diesem Text glücklich werden. Jean-Philippe Toussaint ist, so viel steht zu vermuten, sehr glücklich mit diesem Text.
Verlierern auf der Spur
Das Buch ist eine Ansammlung der Anmaßung, Selbstgefälligkeit und Ideenlosigkeit jener Eventfans, die La-Olas für authentisch und die Torschützenliste für aussagekräftig halten; kurzum Ausdruck jener Idiotie, die Menschen, denen dieser Sport am Herzen liegt, beim Rudelgucken Tränen in die Augen treibt. Dass Fußball in den französischen Feuilletons gefeiert wurde wie eine Offenbarung, zeigt, wie schlecht es um die Berichterstattung dort bestellt ist.
Oder wie gut, im Vergleich, es um sie hierzulande bestellt ist. Holger Gertz hat in Das Spiel ist aus 20 Jahre Seite-drei-Geschichten aus der Süddeutschen Zeitung versammelt, die alle auf die eine oder andere Art vom Verlieren handeln. Das erweist sich als sehr fruchtbarer Ansatz, wohl deswegen, weil jeder Sieg sich ähnlich ist, jede Niederlage aber auf eigene Art unglücklich. Es gibt über Verlierer schlicht mehr zu erzählen. Der Sieg ist eine gute Pointe, die Niederlage eine gute Geschichte.
Darin liegen Stärke und Schwäche des Buchs. Gertz ist Verlierern auf der Spur, nicht dem Verlieren, eine Idee davon kann und will er nicht vermitteln. Er versucht, ganz ohne Theorie auszukommen. Dadurch gerät die Auswahl etwas willkürlich, denn was hat Schweinsteigers Frust nach dem Pfostenschuss im Finale dahoam mit der Gefühlswelt der Kameraden des 2010 auf der Bahn tödlich verunglückten Rodlers Kumaritaschwili zu tun? Diese Willkür fällt deswegen umso mehr auf, weil alle Geschichten im gleichen gefälligen Reportagestil – beobachtungsreich, voller Andeutungen, hin und wieder ein deeper Satz – geschrieben sind, der nivellierend über alle Unterschiede und Eigenheiten hinweggeht und ihnen deswegen am Ende die unverwechselbar eigene Tragik nimmt.
Man kann dieser Schwäche als Leser entgehen, indem man nach dem Pralinenschachtelprinzip liest, nicht alles auf einmal, Stück für Stück. Dann allerdings erfährt man viel über die Einsamkeit des Scheiterns und die Hilflosigkeit jener aus dem Fokus geratenen ehemaligen Helden, die im Ruhestand der Flüchtigkeit ihres Ruhms gewahr werden.
Ums Scheitern und jene Flüchtigkeit auf allen Ebenen geht es auch bei İmran Ayatas Ruhm und Ruin. Im Zentrum des neuen Buchs des Mitbegründers von (unter anderem) Kanak Attak steht ein Kiezclub – dem Kreuzberger Verein Türkiyemspor nicht unähnlich – und elf seiner Protagonisten. Der Verein galt einmal als Vorzeigeintegrationsprojekt und spielte um den Aufstieg in die zweite Liga mit, der dann allerdings knapp verpasst wurde. Das ist auch das Motto der hier zusammenkommenden Lebensläufe. Alle Hauptfiguren des Vereins, die in Ruhm und Ruin zu Wort kommen, haben ihre Chancen mehr oder weniger knapp verpasst.
An einem Kreuzband
Es sind zwei Konfliktzentren, um die herum Ayata seinen Text erzählt. Zum einen ist da die Geschichte der Familie Toprak, deren Sohn Arda das Zeug zum Bundesligastar gehabt hätte und dessen Scheitern alle Hoffnungen begräbt; seine natürlich, Fußball zu spielen, die des Vaters auf gesellschaftliche Anerkennung und die der Schwester auf finanzielle Zuwendung. Ihre Zukunftsträume, das wissen sie jetzt, hingen an einem Kreuzband, das nicht gehalten hat.
Und zum anderen sind da die Vereinsquerelen, die Scharaden der Kleinclubfunktionäre, die alle eine andere Vorstellung davon haben, was der Club sein soll. Soll er Unternehmen sein oder gesellschaftliche Utopie, ist er Ausdruck des Viertels oder doch ein Club der Gastarbeiter und deren Nachfolgegenerationen? Ist es ein emanzipatorisches Projekt oder geht es um Erfolg? Schlussendlich hat man keine Antwort auf diese Fragen, nur ein halbes Dutzend Antworten; das Buch besteht aus elf Monologen, die Figuren kommunizieren übereinander, nicht miteinander. Am Ende erscheint der Kurde Zafer als der Vernünftigste von allen. Er verehrt Galatasaray Istanbul, aber wegen der vielen Nationalisten unter den Fans bringt er es nicht über sich, einen großen Sieg in Gemeinschaft zu feiern. Stattdessen verliebt er sich. Unglücklich natürlich, Glück ist immer nur ein vorübergehender Zustand.
Warum das so ist, erklärt der Grandseigneur der Fußballgelehrten, der Soziologe Gunter Gebauer. In Das Leben in 90 Minuten nähert er sich mit Hilfe der Philosophie diesem Sport. Es ist ein ungeheuer gelehrtes Buch, in dem Foucault und Bierhoff, Wittgenstein und Pelé, Nietzsche und Zidane ganz ungezwungen zusammengehen. Ähnlich wie Hans Ulrich Gumbrechts Lob des Sports aus dem Jahr 2005 schafft es Das Leben in 90 Minuten, das Phänomen Fußball gleichzeitig als gegeben hinzunehmen und grundsätzlich zu hinterfragen. Woher kommt es eigentlich, dass wir mit den Füßen spielen? Warum hat ein Sieg, eine Niederlage für den Fan eine ganz andere Bedeutung als für den Spieler? Warum ist der Fußball prädestiniert für das Fernsehen? Und was hat das alles mit Glauben zu tun?
Das sind Fragen, die schon häufig verhandelt wurden, aber selten mit derartiger Präzision und Leichtigkeit. Gebauer vermeidet es, eine Generalmetapher für den Fußball zu finden, sondern lässt viele Perspektiven zu, um sie am Ende schlüssig zu vereinen. Wer Fußball denken möchte, wer versuchen will, den Sport jenseits von Umschaltspiel und Gegenpressing zu verstehen, wird in diesem Buch fündig werden. Es wird noch sehr viele Bücher über den Fußball brauchen, bis er ausbuchstabiert ist. Sie werden das Niveau von Das Leben in 90 Minuten erreichen müssen, um Substanzielles beitragen zu können.
Der Fußball bleibt auch deswegen ungreifbar, weil er in die unterschiedlichsten öffentlichen Bereiche ausstrahlt. Das ist das Thema des Sammelbands Was Fußball macht, in dem die kulturelle Wirkung des Spiels gezeigt wird. Das Herausgeberduo Susanne Catrein und Christof Hamann hat sich für eine patchworkartige Herangehensweise entschieden: Der kulturelle Output, den Fußball produziert, wird in manchen dieser 19 Beiträge ganz unmittelbar in Lyrik, Prosa und Fotoessays abgebildet, aber auch in Reportagen nachgezeichnet oder durch Analysen verarbeitet. Dabei treten immer wieder neue Aspekte des Spiels in den Blick, und es ist ein großes Verdienst des Buchs, all diese unterschiedlichen Sichtweisen nebeneinander stehen zu lassen, ohne sie zu gewichten. Was Fußball macht zeigt, wie vielfältig die Einflüsse sind, die die kulturelle Welt dem Fußball verdankt.
Es gibt keine Wahrheit im Fußball, eben auch weil ihrer Erfüllung – ein Sieg, ein Titel, ein berauschender Moment – flüchtig ist und im Moment seiner Vollendung bereits wieder zerfällt. Die Schönheit, die ihm eigen ist, speist sich aus einer vergeblichen Sehnsucht nach Vollendung. Der Fußball, schreibt Gunter Gebauer, produziert in Sekundenschnelle Mythen, die sofort wieder in Frage gestellt werden. Mythen, deren Helden sich sofort wieder beweisen müssen. Das ist der Kern des so oft zitierten Satzes „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“: Die Zeit dazwischen ist nicht mehr als eine kurze Gelegenheit, aufzuseufzen – aus Glückseligkeit, Erleichterung oder Trauer.
Die vorgestellten Titel
Fußball Jean-Philippe Toussaint Joachim Unseld (Übers.), Frankfurter Verlagsanstalt 2016, 128 S., 17,90 €
Das Spiel ist aus. Geschichten über das Verlieren Holger Gertz Deutsche Verlags-Anstalt 2016, 240 S., 16,99 €
Ruhm und Ruin İmran Ayata Verbrecher Verlag 2016, 200 S., 19 €
Das Leben in 90 Minuten. Eine Philosophie des Fußballs Gunter Gebauer Pantheon 2016, 320 S., 14,99 €
Was Fußball macht. Zur Kultur unseres Lieblingsspiels Susanne Catrein, Christof Hamann (Hg.) Steidl 2016, 296 S., 18 €
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