Gipfeltreffen der Visionen

Gegengipfel-Tagebuch Der Gipfel für Globale Solidarität in Hamburg ist ein Schmelztiegel der Visionen. Mit dem Treffen der Regierungschefs gibt es kaum Berührungspunkte

Hamburg im schönsten Sonnenschein sieht an diesem 6. Juli auf den ersten Blick aus wie immer. Nur sind da auffallend viele Backpacker, und die Hubschrauber, die unablässig am Himmel kreisen, hören sich nervös an. Morgen ist offizieller Auftakt des G20-Treffens der Regierungschefs.

Als Gegenentwurf tagt im Stadtteil Barmbek mit 1200 Besuchern, 120 freiwilligen Helfern und 80 Veranstaltungen an sieben Orten der Gipfel für Globale Solidarität, der an diesem Donnerst zu Ende geht. Es gibt unter anderem Podien über Klimagerechtigkeit und Ernährung, die mit NGO-Vertretern international besetzt sind und der G20-Logik ihre Weltsicht entgegen setzen.

Da ist zum Beispiel Frank Ademba aus Tansania, der politisch gefördertes Landgrabbing gegen Kleinbauern anprangert. Oder Johanna Böse-Hartje von der Arbeitsgemeinschaft Bäuerliche Landwirtschaft, die den Zusammenhang zwischen Welthunger und industrieller Tierhaltung erläutert. Der stellvertretende Vorsitzende des VENRO-Netzwerks und Leiter der Abteilung Politik von „Brot für die Welt“ Klaus Seitz setzt sich für die Einbindung der südlichen Länder in Entscheidungen ein: „Wir können nicht eine Initiative für Afrika beschließen und sie anschließend fragen, ob sie das gut finden“, sagt er. Für viele Themen seien eigentlich nicht die G20 zuständig, sondern die G192, also die UN-Länder.

Visionäre Ideen – im Großen wie im Kleinen

Der Gipfel für Globale Solidarität ist ein Pool für utopische und visionäre Ideen. Manche Initiativen, wie das Leipziger Konzeptwerk Neue Ökonomie, arbeiten konkret am Umbau der Gesellschaft und wollen sie von unten nach dem Degrowth-Prinzip verändern. Die Sozialistische Alternative SAV feilt noch an ihrer Version der Zukunft. Sie wollen den Kapitalismus durch eine basisdemokratische Räterepublik ablösen, in der alle mit entscheiden, Repräsentanten ausgelost werden und jederzeit abgesetzt werden können. Damit die Menschen Zeit haben, sich politisch zu engagieren, sollen sie nur zwanzig Wochenstunden arbeiten. Der Workshop ist gut besucht, und es scheint, dass die meisten Teilnehmer bereits in der SAV organisiert sind. „Viele Kritiker sagen, der Mensch sei von Natur aus zu schlecht, um das umzusetzen“, sagt eine Frau. „Aber wenn das so ist, ist der Kapitalismus das schlechteste System, um sie zu organisieren, weil er Gier und Rücksichtslosigkeit belohnt und soziales Verhalten bestraft“.

Sie erinnert daran, wie viele soziale Aktionen aus einer Ausnahmesituation hervorgehen – zum Beispiel dem G20-Gipfel selbst, für den die Hamburger hunderte Demonstranten in ihre Häuser aufgenommen haben.

Diese Hilfsbereitschaft habe ich am ersten Abend selbst erlebt, als ich spät nachts nicht mehr zu meiner Unterkunft in Bergedorf komme. In dieser Nacht strande ich in einem Holzhaus auf dem Kampnagel-Gelände. Von der Decke hängen Kunstobjekte, Sofas an den Wänden. In der Sitzecke rauchen etwa zehn Hamburgerinnen und unterhalten sich gut gelaunt auf Englisch, Deutsch und Arabisch. Drei junge syrische Männer servieren köstlich riechende vegane Suppe, Hummus und gekochte Bohnen. "Sicher kannst du hier übernachten", sagt Anas, der für das Haus verantwortlich ist. Setz dich, möchtest du was essen?

Am Morgen erzählt Anas mir, dass er Syrer ist und das „Migrantopolitan“, wie das Haus heißt, seit einem Jahr betreut. Es ist ein Treffpunkt für Hamburger und Flüchtlinge „die hierher kommen können statt in die Moschee“. Zu den Protesten wird er natürlich gehen. „Ich verstehe nicht, warum manche Deutsche Angst vor Polizeigewalt haben“, sagt der politische Aktivist. „In meiner Heimat Syrien musste ich bei jeder Demonstration damit rechnen, erschossen zu werden“.

Zurück ins Foyer des Kampnagel-Theaters beim Solidaritäts-Gipfel. Hier stellen viele Initiativen und Vereine ihre Ideen vor. Das Projekt „Hamburg mal fair“ sammelt auf einem Transparent von den Besuchern Forderungen an die G20 für eine bessere Welt. Was soll später damit geschehen? „Wir werden auf unserer Homepage über die Aktion berichten“, sagen die Initiatorinnen. Es ist eine von vielen Aktionen, die symbolisch wirken, weil sie im Dunstkreis derer bleiben, die sich ohnehin mit sozialen und ökologischen Visionen identifizieren. In die abgeschottete Parallelwelt der 19 Regierungschefs, die sich am Wochenende nur drei Kilometer entfernt treffen werden, wird kaum etwas von dem vordringen, was in den Gegengipfel-Workshops passiert ist. Das Ziel der Teilnehmer ist eher eine Transformation von unten, die irgendwann auch die Weltpolitik verändern wird, getreu einem Motto des G20-Widerstands: „Ihr seid 20, wir sind Milliarden“.

Friederike Grabitz und Christoph Kammenhuber berichten für den Freitag von den Protesten gegen den G20-Gipfel und dem alternativen "Gipfel der globalen Solidarität". Alle Beiträge rund um das G20-Treffen in Hamburg finden Sie hier

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