Es ist Freitag, der erste Abend des G20-Gipfeltreffens. Im Chaos der sich daraus entwickelnden Hamburger Krawallnacht laufen junge Männer und Frauen in schwarzen Hoodies durch die Straßen, Touristen posieren im Flammenschein für Selfies. Die Stimmung ist hektisch, aber nicht bedrohlich. Erst die vielen Kameras und Helme mit der Aufschrift „Presse“ lassen mich ahnen, dass diese Bilder alle anderen Botschaften des Gipfels überlagern und diese Nacht zu einem historischen Moment machen werden.
In der Schanzenstraße, die auf das Schulterblatt trifft, stehen Wasserwerfer in dichter Reihe. Einer nach dem anderen durchbricht die Dämmerung mit blauem und weißem Scheinwerferlicht. Alle hier rechnen damit, dass sie gleich losfahren und die Szenerie auflösen werden. Aber die Feuer brennen schon zwei Stunden, und es wird weitere drei Stunden dauern, bis die Panzerwagen losfahren. Bis dahin wird sich in den vier Straßen, die hier sternförmig zusammentreffen, eine gesetzlose Zone bilden. Irgendwann wird jemand anfangen, Scheiben einzuschlagen und zu plündern, und viele werden spontan mitmachen, als sie merken, dass sie nicht aufgehalten werden.
Warum hat die Polizei nicht früher eingegriffen? Diese Frage wird seit der Krawallnacht vom 7. Juli viel diskutiert. In der Debatte gab es von Seiten der Polizei zunächst nur die Version von Einsatzleiter Hartmut Dudde, der in einer Pressekonferenz nach dem Gipfel sagte, die Lage sei unübersichtlich und potentiell gefährlich gewesen. Es habe Hinweise gegeben, dass Randalierer auf den Dächern sich mit Zwillen und Metallkugeln bewaffnet hätten.
Unzeitgemäße Polizeitaktik
Die Perspektive der etwa 20.000 im Gipfel eingesetzten Polizisten, die dort einen harten und sehr schwierigen Job zu bewerkstelligen hatten, fehlt in der Öffentlichkeit weitgehend. Oliver von Dobrowolski ist einer der wenigen, die den Mut haben, Duddes Version etwas entgegen zu setzen. Er war für das Kommunikationsteam der Polizei in Hamburg. In seinem Blog kritisiert er die Entscheidung, Hamburg für den Gipfel auszuwählen ebenso wie die Polizeitaktik dieser Tage.
Das „Kippen der Situation“ habe schon mit der Diskussion um die Übernachtungscamps von G20-Gegnern begonnen, die trotz Genehmigung von der Polizei behindert worden waren. Zahlreiche Einschränkungen von Bürger- und Freiheitsrechten empfand er „als Vertreter eines demokratischen Rechtsstaats“ als „unfassbar und beschämend“. Duddes Taktik sei nicht zeitgemäß und gelte als seit Jahrzehnten überholt: „Hier wurde die ausgestreckte Hand zur Faust geballt“. Zu den Akteuren der Krawallnacht sagt Dobrowolski: „Wer Vergleiche der kriminellen Krawallmacher mit Terroristen anstellt, kann nicht bei Sinnen sein und verhöhnt gleichzeitig die Opfer und Hinterbliebenen tatsächlicher terroristischer Gewalt“.
Tiefe Wunden in der Seele der Stadt
Der Vergleich der Autonomen mit Terroristen stammt von Außenminister Sigmar Gabriel. So weit würde Anjes Tjarks nicht gehen. Er glaubt, dass „das etwas mit Gewalt aus dem linken Spektrum zu tun hat“. Der Vorsitzende der Hamburger Grünen, die den Gipfel als Regierungspartei mit zu verantworten hatten, muss in diesen Tagen viele unbequeme Fragen beantworten, zum Beispiel nach der Taktik der Polizei. Die werde in einem parlamentarischen Sonderausschuss untersucht: „Ich gehe davon aus, dass es eine vernünftige Erklärung dafür geben wird, dass die Einsatzkräfte nicht früher eingegriffen haben“. Durch die Ereignisse von Freitagnacht, sagt er, seien „in der Seele unserer Stadt tiefe Wunden geschlagen worden“. Dass nun die Krawalle die Berichterstattung dominieren und keines der Themen, die die Gipfelgegner inhaltlich vertraten, es in die Verhandlungen der Regierungschefs geschafft hätte, macht Tjarks wütend.
Die Grünen waren in einer schwierigen Situation: die Beteiligung an Protestaktionen muss für die Regierungspartei politisch ambivalent gewesen sein. Die Teilnahme an der großen Abschlusskundgebung sagten sie wieder ab, „weil das Bündnis es nicht geschafft hat, sich klar von Gewalt zu distanzieren“.
Die Szenerie war nicht kontrollierbar
Nur: Was ist in diesem Kontext „Gewalt“? Fragen wie diese beschäftigen den Kriminologen und Sozialforscher Nils Schuhmacher, der die Krawallnacht selbst mit erlebt hat. Dass in der Aufarbeitung nun unterschieden wird zwischen friedlichen Demonstranten, den „Guten“, die nur appellieren, und den Anderen, „die die Grenze der Legalität in irgendeiner Weise überschreiten“, hält er für problematisch, denn zu diesem Spektrum „gehören auch Demonstranten, die zum Beispiel Sitzblockaden gemacht haben. Sie mit den Randalierern gleich zu setzen, ist vollständig realitätsfern“. Protest habe immer etwas mit Störung und Grenzüberschreitung zu tun. „Das kann eher spielerisch bleiben oder es kann kippen, auch je nachdem, wie die Polizei sich verhält.“
Anders als Tjarks vertritt Schuhmacher die Position, dass die Szenerie in der Krawallnacht grundsätzlich nicht kontrollierbar war. Sie müsse als Teil des G20-Gesamtereignisses gesehen werden. Nun werde Linksextremismus zum Wahlkampfthema, noch bevor es gesicherte Hinweise darauf gibt, wer die Akteure der Krawalle waren und ob sie überhaupt als „Gefährder“ gelten müssen. Die Polizei, sagt Schuhmacher, könne von ihrer Position jetzt nicht mehr abrücken, „anders ist die Stoik nicht zu erklären, mit der man sich ein eigenes Ereignis aufbaut, von dem es auch viele abweichende Versionen gibt“. Schon am Tag nach den Plünderungen entstand demnach eine mediale und politische Eigendynamik, die viel von Bildern und wenig von Information lebt. Diese Bilder könne kein friedlicher Protest erreichen, auch nicht die Abschlussdemonstration am Samstag, die eine der größten der Stadt in der Nachkriegsgeschichte war.
Wie professionell Demonstranten die Macht der Bilder nutzen, machte ein junger Mann vor, der an der Sternschanze mit dem Tuch der Autonomen vorm Gesicht und einem Blumenstrauß in der ausgestreckten Hand vor einer brennenden Barrikade posierte. Er genoss das Blitzlichtgewitter der Reporter, die sofort zur Stelle waren. Diese Hommage an den Streetart-Künstler Banksy charakterisiert perfekt die Ambivalenzen der Hamburger Krawallnacht.
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