Topografien des Errors

Dokumentation Wie man richtig vom falschen Leben erzählt: Andrei Schwartz begleitet in seinem Film „Himmelverbot“ einen Mörder nach der Haft
Ausgabe 33/2015
Gavriel Hrib hat 21 Jahre Gefängnis hinter sich
Gavriel Hrib hat 21 Jahre Gefängnis hinter sich

Foto: W-Film/Tag-Traum Filmproduktion

Ein kaum sichtbarer Häftling hält aus einem ornamental vergitterten Gefängnisfenster einen kleinen Spiegel und kommentiert verschmitzt seine Handbewegungen: „Meine Kamera ist eine Sony. Sie hat die beste Optik der Welt. Wenn ich sie so halte, kann ich bis zum Himmel blicken. Ansonsten blicke ich nur bis zur Mauer. Moment, Kassettenwechsel!“ Schon zu Beginn des Dokumentarfilms Himmelverbot präsentiert der Filmemacher Andrei Schwartz seinen Protagonisten Gavriel Hrieb – einen dünnen Mann mit rotblonden Haaren und großen Augen – als sympathisches Schlitzohr. Im doppelten Sinn setzt sich Hriebs schelmische Selbstermächtigungsgeste über den Einschluss im Hochsicherheitsgefängnis hinweg; optisch wird ein Blick zum Himmel ermöglicht, verbal wird ein Spiegel zu einer Sony-Kamera. In Himmelverbot geht es um solche unterschiedlichen Optiken, um Verdichtung und Verschiebung von Narrationen, genauer: um Aneignungen, durch den Protagonisten und den Filmemacher.

1990 beging Gavriel Hrieb einen Doppelmord, bekam dafür lebenslänglich und trat seine Strafe an. Der Mord geschah nur wenige Monate nach einer Änderung im rumänischen Gesetz, daher entging Hrieb der Todesstrafe. Aufgrund einer späteren Änderung – einer direkten Folge der Aufnahme Rumäniens in die EU – wird Hrieb nach 21 Jahren Haft als einer der ersten Lebenslänglichen vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen. Der Filmemacher Schwartz begegnete ihm erstmals bei seinem Dreh zu Jailbirds – Geschlossene Gesellschaft (2005), einem Dokumentarfilm über das rumänische Hochsicherheitsgefängnis in Bukarest-Rahova.

Für den Vorspann von Himmelverbot nutzt Schwartz Aufnahmen aus Jailbirds. 2002 gedreht, zeigen sie den noch jungen Gavriel Hrieb, wie er auf einem Stockbett mit blumengemusterten Bettlaken sitzt und vom Motiv seines Mords erzählt. Die Oberstaatsanwältin, die er getötet habe, hätte ihn während eines Prozesses als „lausigen Juden“ bezeichnet und ihn auf bloßen Verdacht hin zu sechs Jahren verurteilt. Aus Rache habe er sie später getötet. 2012 sitzt Hrieb wieder auf einem Stockbett und ist sichtlich gealtert. Die Haut ist verknittert, die Haare sind ergraut, die Gesichtszüge eingefallen. Er spricht über seine Träume kurz vor der Entlassung.

„Kaiser of Müll“

Andrei Schwartz, der über Jahre Kontakt hielt, ist mit der Kamera dabei, als die Mitinsassen „Gavi“ in ihrer überfüllt-beengten Zelle ein Abschiedsessen kochen, als er wenig später mit umgerechnet zehn Euro, seinem „Reisegeld ins neue Leben“, vor dem Gefängnis steht und von Verwandten tränenreich begrüßt wird. Insgesamt zwei Jahre begleitet Schwartz Hrieb nach der Freilassung. Bei den nächsten Besuchen ist Hriebs Blick noch melancholischer, sein Gesicht noch schattiger, und die ernsten Augen liegen noch tiefer. Er berichtet von feindseligen Nachbarn, der prekären Familiensituation und zunehmenden Konflikten, die auch mit seiner Arbeitslosigkeit in Zusammenhang stehen. Durch Vermittlung des Filmemachers findet er schließlich Arbeit in München, wo er in einer Großküche einen Spülautomaten mit dreckigem Geschirr befüllt oder vor einem Kirmesklohäuschen Frauen im Dirndl 30 Cent abknöpft. Um sich unentbehrlich zu machen, arbeitet Hrieb hart und nennt sich selbst „Kaiser of Müll“.

Neben der Resozialisierungsgeschichte ist Himmelverbot eine Schauplatzgeschichte. Während der Autofahrten (durch Bukarest, ins Heimatdorf der Eltern, auf der Suche nach dem verschollenen Vater) rücken rumänische Topografien ins Blickfeld. Die Blicke durch die eingeschlagene Frontscheibe verbinden wenig besiedelte Landstriche, graue Betonbauten, bröckelnde Fassaden. Das im Vorbeifahren zu sehende Rumänien ist ziemlich karg und trist, vielfach provinziell; auf dem Land sind die Straßen unbefestigt, Bretterbeschläge dienen als Zäune, Pferdekutschen als Transportmittel. Ein wenig verwaschen wirkende Bilder und der nicht immer perfekte Ton scheinen zu diesem Bild passen.

Bestens in sein Bild von Rumänien habe Gavriels Geschichte „voller Schatten und dunklem Humor“ gepasst: Zu Beginn des Films redet Schwartz aus dem Off über das Land, das er als Teenager verlassen hat. Schon hier markiert der Regisseur, wie stark er mit dem filmischen Geschehen verwoben ist. Insistierend und investigativ kommt er während der vielen Besuche immer wieder auf die Vergangenheit zu sprechen und spürt dabei unauflösbare Widersprüche der Mordgeschichte auf; Schwartz zweifelt an der Richtigkeit des systemkritischen Rachemords gegen eine antisemitische Justiz und konfrontiert Hrieb schließlich mit dessen Prozessakte.

So wie ein Mörder ein richtiges, nichtbanales Motiv braucht, scheint Schwartz einen repräsentativen, nichttrivialen Ort für die Auseinandersetzung mit dem Gestern zu benötigen. Spätestens als der Filmemacher die Konfrontation in der imposanten Architektur des Bukarester Tribunals inszeniert, wird deutlich, wie sehr Filmemacher und Protagonist zu Kollaborateuren einer Erzählung geworden sind.

Info

Himmelverbot Andrei Schwartz 86 Minuten, Deutschland/Rumänien 2014

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden