Marcia

Kehrseite II Der lange Sommer, den ich mit Marcia an der Nordsee verbracht habe, erscheint mir heute als der einsamste meines Lebens. Dabei stimmt das gar nicht. ...

Der lange Sommer, den ich mit Marcia an der Nordsee verbracht habe, erscheint mir heute als der einsamste meines Lebens. Dabei stimmt das gar nicht. Ich habe dort die besten Partys gefeiert, wild geknutscht und jeden Abend auf eine neue Brüderschaft getrunken. Aber alles ohne meine Freundin. Und das ist das Einzige, an das ich mich ganz genau erinnere.

Als Marcia direkt am ersten Abend den besten Surfer der Insel kennen lernte, war ich noch etwas neidisch. Doch als ich sie dann, nach langem Suchen, morgens um zehn am Strand fand und sah, wie sie aufs Meer starrte, bekam ich eine erste Ahnung davon, wie dieser Sommer sich gestalten würde.

"Hey, Marcia!", sagte ich, "Lust auf Cappuccino und Schmelzkäsetoast?" Aber sie schüttelte den Kopf. Einige Augenblicke später sagte sie: "Norman ist der mit dem weißen Segel." Sie zeigte auf einen weißen Punkt, irgendwo draußen auf dem Meer. Ich nickte.

Während ich allein vor unserem Zelt saß und frühstückte, sagte ich mir immer wieder: "Das ist normal, sie ist halt echt verknallt, so guckt man dann. Wie würdest du dich wohl benehmen, wenn der tollste Junge der Insel in dich verliebt wäre?"

Aber von da an saß Marcia jeden Morgen schon in aller Herrgottsfrühe am Strand und beobachtete Norman, den Surfer, der die Wellen bezwang und den Wind. Manchmal trug sie noch ihre Jeanshose und den warmen Pullover, wenn ich mittags an den Strand ging mit einer riesigen Sonnenbrille und einem knappen Bikini. Sie saß einfach da und starrte aufs Meer.

Manchmal, wenn Norman Luftsprünge machte, hob sie ihre Hand und winkte ihm. Und wenn er näher herankam ans Ufer, nahm Marcia ihr Portmonee und lief zu dem kleinen Strandkiosk, um Pommes rotweiß zu kaufen und direkt ans Meer zu bringen. Dabei war sie so aufgeregt, dass sie gar nicht merkte, wie liebevoll der nette Junge vom Strandkiosk sie ansah. An der Stelle, wo die Wellen am Strand ausrollten, verschlang Norman sein Mittagessen dann in einer unglaublichen Geschwindigkeit, drückte Marcia eilig und fest, küsste sie und stürzte sich zurück ins Meer.

Abends, wenn es kühl wurde am Strand und alle anderen Mädchen sich fertig machten für die Nacht, saß Marcia immer noch auf ihrer Bastmatte und ließ Sand durch ihre Finger rieseln, bis Norman aus dem Wasser kam, sich duschte, das Brett und das Segel in den Pfahlbau brachte und sie küsste. Dann gingen sie zu Norman nach Hause und aßen. Und wenn all die jungen Inselbewohner und Einheimischen in den Kneipen und Bars tranken oder auf den wichtigen Partys tanzten, lagen Marcia und Norman schon längst im Bett und schliefen wie Steine.

Hin und wieder versuchte ich, Marcia davon zu überzeugen, dass sie eine Party oder ein Frühstückstreffen nicht verpassen durfte. Ich sagte Sachen wie: "Wenn´s nur darum geht, aufs Meer zu starren, wären wir mit Friedrichskoog billiger weggekommen." Oder ich zitierte den Inselanzeiger: "Das Mega-Event des Jahres, der Höhepunkt der Partysaison." Dabei fuchtelte ich mit den Armen und rauchte hektisch.

Aber Marcia blickte mich kaum an und wenn, dann nur ganz kurz, voller Mitleid. Dabei ließ sie Sand durch ihre Finger rieseln, den feinkörnigen, trockenen Nordseesand. Der Sandstaub zwischen den Körnern blieb an ihren Händen haften, legte sich auf ihre Arme und ihr Gesicht. Die salzige Luft lagerte winzige Kristalle in ihren Haaren ab.

Ich machte mir Sorgen, brachte ihr belegte Brötchen mit, wenn ich zum Strand ging, weil ich fürchtete, sie könne vom Fleisch fallen. Und dann wurde mir immer ganz anders, wenn ich sah, wie langsam und lustlos sie kaute, ohne ihren Blick vom Meer abzuwenden oder von Norman. Man konnte gar nicht erkennen, ob er gerade einen Trick machte da draußen. Vielleicht sah man gar kein weißes Segel. Vielleicht waren das nur Schaumkronen.

So verging der Sommer - für Marcia.

Ich ging tanzen, lernte einen Haufen Leute kennen, was blieb mir anderes übrig, und trank so viel und sorglos wie nie wieder.

Als es langsam kälter wurde und die Süddeutschen ihre Zelte abbauten, kam Norman einmal schon am Nachmittag aus dem Wasser. Er ging zu Marcia, die am Strand saß und kaum noch zu erkennen war, weil ihre Haut nun endgültig die Farbe des Sandes angenommen hatte.

"Marcia", sagte er, "ich finde unsere, äh, Beziehung irgendwie komisch. Ich weiß nicht. Jan sagt pervers. Nee, Quatsch. Ich ... Also, ich fühle mich halt einfach nicht mehr frei. Das ist das Problem. Wir müssen Schluss machen."

Marcia nickte kaum wahrnehmbar.

Eine Weile blieb Norman noch vor ihr sitzen, in diesem albernen Isolieranzug, mit nackten Füßen. Die See war stürmisch und man konnte ihm ansehen, dass er sich ärgerte, diese Wellen zu versäumen. Dann richtete er sich auf und ging heim.

Aber Marcia blieb noch bis spät in die Nacht auf ihrer Bastmatte sitzen. Der Junge vom Strandkiosk setzte sich irgendwann zu ihr.

Dann sahen sie zusammen aufs Meer. Und irgendwie beruhigte mich das gar nicht.

Friederike Trudzinski, 1982 in Aachen geboren und in Hamburg aufgewachsen, lebt heute in München. Marcia ist eine von sieben Kurzgeschichten aus ihrem Buch Boris, das in diesem Monat bei Minimal Trash Art erscheint.


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