Emigration Teil V der Freitag-Serie "Die Welt 1939": In den Monaten vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verschärfte sich die Situation deutscher Flüchtlinge in vielen Ländern
Es passierte nicht oft, dass die Kinder des Landschulheims im Norden Kents in das Zimmer der Direktorin gerufen wurden. Der 3. September 1939 war solch ein Tag. Eric Bourne kann sich noch gut an den Anlass erinnern: Premierminister Neville Chamberlain trug im Radio die britische Kriegserklärung an Deutschland vor. „Mit einer Mischung aus Erleichterung und Schrecken habe ich darauf reagiert“, sagt der 84-Jährige heute. So wie Bourne, der damals noch seinen deutschen Namen Ulrich trug, dürfte es vielen Emigranten gegangen sein. Trotz aller erlittenen und noch bevorstehenden Entbehrungen hatten sie nun die Hoffnung, mit dem Hitler-Regime könnte es bald vorbei sein.
Die Ereignisse des Jahres 1938 hatten dazu beigetragen, dass sich die Situation für die Emigr
die Emigranten noch einmal verschärfte. Bevorzugte Exilorte wie Wien oder Prag waren weggefallen oder stark gefährdet. Die Novemberpogrome hatten vielen Juden endgültig den wahren Charakter des Nazi-Regimes gezeigt und eine neue Fluchtwelle ausgelöst. Das Flüchtlingsproblem tauchte nun verstärkt in den Schlagzeilen auf. Dabei spielten Fragen eine Rolle, die auch in der heutigen Diskussion immer wieder zur Sprache kommen. Welcher Gefahr sind die Menschen in ihrem Heimatland tatsächlich ausgesetzt? Wie viele von ihnen kann jedes Land aufnehmen? Nehmen sie unserer eigenen Bevölkerung die Arbeit weg und stellen sie eine Gefahr für Sicherheit und Kultur dar? Daneben versuchten die Emigranten selbst, die Diskussion zu beeinflussen, in dem sie die Gastländer über die Gefahren des Dritten Reiches aufklärten.„Deutsche Flüchtlinge helfen der Wirtschaft und schaffen viele Jobs hier“, schrieb die New York Times Ende April 1939 über einen Bericht, mit dem ein Kirchenvertreter die positiven Effekte der Immigration hervorhob. „Von einem strikt utilitaristischen Standpunkt aus gesehen wäre es ein schlechtes Geschäft für Amerika, die derzeit zur Verfügung stehenden Talente der Flüchtlinge nicht zu begrüßen“, zitiert das Blatt den Sekretär des nationalen Kirchenrates, Henry Smith Leiper. Dieser führte ein Reihe von Unternehmen auf, die von Immigranten gegründet worden waren und hunderte von Mitarbeitern eingestellt hätten. Leiper wies außerdem darauf hin, dass die Zahl der deutschen Immigranten in den USA viel geringer sei als angenommen. Zwischen 1932 und 1938 seien lediglich 46.000 Deutsche in die USA immigriert. Es sei daher „lächerlich“ zu glauben, die Flüchtlinge könnten „ernsthaft ein Arbeitslosenproblem verschärfen, dass zehn Millionen Beschäftigte betrifft“.Sorge um den Status als FlüchtlingDie Zahlen drohten durch die verschärfte Judenverfolgung jedoch stark anzusteigen. Anfang 1939 wurden Pläne bekannt, dass die Nazis rund 400.000 Juden in den kommenden fünf Jahren ausweisen wollte. Auch Großbritannien fragte sich, wie das Land mit den zu erwartenden Flüchtlingsströmen umgehen sollte. Die Times forderte daher im April 1939, dass sich die Regierung des Problems annehmen müsse: „Nichts lässt sich an der Tatsache ändern, dass die Zahl der geretteten Flüchtlinge sehr niedrig bleibt, wenn dies nur von privaten Wohltätigkeitsorganisationen abhängt. Die Freiwilligenorganisationen können nur so viele aufnehmen, wie ihr Budget erlaubt und wie sie in der Lage sind, untadelige Bürgen zu finden. Daraus ergibt sich, dass die Zahl der Personen, denen in diesem Land dauerhaft oder vorübergehend Asyl gewährt werden kann, extrem niedrig ist.“Die emigrantenfreundliche Position der Times stieß jedoch auch auf Kritik bei Lesern, die darin ein zu großes Entgegenkommen gegenüber den Nationalsozialisten sahen und von Deutschland mehr Verantwortung verlangten: „Wenn wir auf diese Weise gegen die Deutschen aufstünden und ablehnten, ihre Arbeit zu tun, würde irgendjemand annehmen, dass selbst die deutschen Nazis die unglücklichen Juden abschlachteten, die jetzt noch in ihrem Land leben?“, fragte der amerikanische Diplomat Robert P. Skinner im Juli 1939 in einem Leserbrief an die Zeitung. „Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass sie ihre augenblickliche grausame Politik revidieren und mit Ländern verhandeln, die zur begrenzten Aufnahme von deutschen Juden unter Erstattung der anfallenden Kosten bereit sind?“ Skinners Denken ist ein typisches Beispiel dafür, wie sehr sich die Grausamkeit der Nazis von dem unterschied, was die zivilisierte Welt damals für möglich hielt.Auch in der deutschen Exilpresse wurde die Frage nach dem eigenen Status im Gastland zunehmend wichtiger. Die Pariser Tageszeitung äußerte im April 1939 Verständnis dafür, dass die französische Regierung die Situation der Immigranten gesetzlich neu zu regeln begann: „Fast vier Millionen Ausländer leben in Frankreich, und zu gefährdet ist dieses Land, als dass es sich leisten könnte, auf eine Reglementierung ihres Aufenthalts und eine Regulierung frischer Zuwanderung zu verzichten. Aber während die Behandlung des Fremdenproblems lange von der Sorge beherrscht schien, wie man die Ausländer hindern könne, für ihr Gastland schädlich und gefährlich zu werden, ist die gemeinsame Voraussetzung der beiden Dekrete vom 12. und 21. April positiver Natur: man will dem in Frankreich lebenden Ausländer erleichtern, für sein Gastland nützlich und vorteilhaft zu werden.“ Während das erste Dekret die Rekrutierung der Ausländer im Kriegsfall betraf, erlaubte das zweite eine beschleunigte Aufnahme einer wirtschaftlichen Betätigung, falls diese im Interesse der französischen Wirtschaft liegen sollte.Fast stolz berichtete das Blatt, dass „der Prozentsatz der technisch, handwerklich und landwirtschaftlich geschulten Arbeiter unter den Emigranten wesentlich größer ist, als es die Goebbels’sche Verleumdungspropaganda wahrhaben will“. Allerdings zeigte die Initiative der französischen Regierung nur wenig Erfolg, wie die Zeitung vier Monate später enttäuscht konstatierte. Von 250 Anträgen seien nur 15 bewilligt worden.Schließlich dürfte es sich bei den meisten Emigranten um Intellektuelle wie den Vater von Eric Bourne gehandelt haben. Robert Breuer war in der Weimarer Republik ein bekannter Journalist und engagierter SPD-Mann gewesen. Schon 1933 floh er über die Tschechoslowakei nach Frankreich. Mit seiner zerstreuten Familie – die Mutter seines Sohnes lebte ihn London – kommunizierte er per Brief. Eric Bourne erinnert sich besonders gut an die Mütze eines republikanischen Spanien-Kämpfers, die ihm sein Vater aus Paris schickte. Dort schrieb Breuer für zahlreiche Exilblätter und engagierte sich im Verband der emigrierten Schriftsteller. Auf die Dauer keine befriedigende Existenz. Breuer war einer „der unglücklichsten Menschen in der erzwungenen Emigration“, schrieb der frühere Bundespräsident Theodor Heuss nach dem Krieg, den Breuer bei seiner weiteren Flucht über Marokko und Martinique nicht überlebte.Ebenso wie Breuer gelang es auch den anderen intellektuellen Emigranten kaum, in ihrem Gastland als mahnende Stimmen wahrgenommen zu werden. Thomas Mann und Albert Einstein waren die großen Ausnahmen. Sie tauchten regelmäßig in den ausländischen Zeitungen auf. Aber auch Publizisten wie Friedrich Stampfer, bis 1933 Chefredakteur des Vorwärts, konnten sich gelegentlich Gehör verschaffen. Bei seinem Eintreffen in den USA rief er im Februar 1939 zu einer „Anti-Hitler-Koalition auf der größtmöglichen Basis“ auf. Dabei zeichnete er jedoch ein Bild von Deutschland, dass kaum der Realität entsprach: „Allgemeine Unruhe und Unzufriedenheit, zusammen mit den finanziellen und wirtschaftlichen Problemen des Regimes, bieten die Möglichkeit, die Nazis auf revolutionärem Weg zu stürzen, und so einen allgemeinen europäischen Konflikt zu verhindern.“ Diese trügerische Hoffnung der Emigranten, dass sich die Deutschen selbst des Nazi-Regimes entledigen könnten, blieb bis zuletzt unerfüllt. Was die Folgen betraf, behielt Stampfer mit seiner Einschätzung jedoch recht: „Falls das nicht passiert, ist der Zweite Weltkrieg unvermeidbar.“
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.