Frisch gebackene Rechtschreibreform

RECHTSCHREIBREFORM Ein Beitrag zur Rationalisierung und eine Replik auf Rudolf Walther

Bei den Befürwortern dessen, was als Rechtschreibreform vor fünf Jahren den Charakter eines Ministerpräsidentenerlasses annahm, bei dessen Vorbereitung kein deutscher Schriftsteller, Verleger, Journalist einbezogen worden war, - bei diesen Opponenten einer Opposition gegen ein die Gepflogenheiten des alten Obrigkeitsstaates erneuerndes Unternehmen kann man drei Argumente ausfindig machen. Das eine verweist darauf, daß es wichtigere Dinge gäbe. Es ist ein verfängliches Argument insofern, als es kaum ein wichtiges Ding des öffentlichen Lebens gibt, zu dem man nicht sofort ein noch wichtigeres ausmachen könnte; es ist ein Argument, das, weitergedacht, jede Mitbestimmung der einzelnen und der vielen bei den sie betreffenden Dingen ad absurdum führt. Gewiß gibt es wichtigere Dinge als die behördlichen Eingriffe in die Rechtschreibung; da aber jeder Schreibende und jeder Lesende mit ihr zu tun hat, betrifft ihre Änderung auch jeden. Sie ist ein naher, in die Handhabung jedes einzelnen gegebener Gegenstand; darum ist sie vorzüglich geeignet, dem Votum der Betroffenen ausgesetzt zu werden.

Ein anderes Argument meint, das sprachliche Bewußtsein entwickle sich unabhängig von jeder Orthographie; weder die gesprochene noch die geschriebene Sprache würden von Schreibweisen beeinflußt. Für Schriftepochen von Gutenbergs sinnreicher Erfindung mag das plausibel sein; für die aus dem Buchdruck hervorgegangene Zeit zunehmender Rechtschreibübereinkünfte stimmt es nicht. Unsere Sprache hat nicht nur eine Lautgestalt, sie hat auch ein wohlbestimmtes Schriftbild, und wer es ohne Not ändert, wirkt auf die Sprache auch dann ein, wenn die Lautgestalt nicht unmittelbar davon betroffen ist.

Er tut es erst recht, wenn die Lautgestalt in Mitleidenschaft gezogen wird, wie es geschieht, wenn man plazieren, mit langem a, plötzlich von Platz, mit kurzem a, ableitet und das Wort platzieren erfindet, das man mit kurzem a sprechen muß, wenn das tz nach dem Vokal irgendeinen Sinn haben soll. Oder wenn aus dem frischgebackenen Ehepaar, mit dem auf der ersten Silbe betonten Eigenschaftswort, nach der Vorschrift des neuen Regelwerks eine Zerlegungsform wird, bei der sich nicht nur der Sinn, sondern auch die Betonung ändert; was vor uns erscheint, ist ein frisch gebackenes Ehepaar, also etwas, das weder appetitlich noch menschenfreundlich ist. Bei solchen Direktiven - das neue Regelwerk verfügt sie gehäuft - bedeutet Rechtschreibreform unmittelbar Sprachveränderung. Und sie ist das nicht infolge (wären die neuen Regeln konsequent, so müßten sie in Folge setzen) eines veränderten Sprachgebrauchs, sondern durch einen Ministerpräsidentenerlaß ohne eine andere Basis als die Spezialistenhörigkeit der Bürokratie und die Wirklichkeitsferne der Spezialistenzirkel.

Ein drittes Argument will das zweite bekräftigen; es meint, daß in der Hoch-Zeit deutscher Literatur - also im späten achtzehnten, dem frühen neunzehnten Jahrhundert - die Leute geschrieben hätten, wie ihnen der Gänsekiel gewachsen war, und führt zum Beleg einige orthographische Originale an, etwa die Briefschreiber Mozart oder Christiane Vulpius. Beiden war eine kontinuierliche Schulbildung versagt geblieben, und beide haben sich dadurch glücklicherweise nicht davon abhalten lassen, Briefe zu schreiben, in einer Antiorthographie, die amüsant und ausdrucksvoll ist, aber nicht nur das, denn die wildwüchsige, inkommensurable Schreibweise bedeutet immer auch eine Leseerschwernis.

Blicken wir in die Bücher jener Zeit, in die um das Jahr 1800 gedruckten Werke Schillers, Wielands, Goethes, Kants, so bemerken wir etwas Erstaunliches: sie sind in einer Orthographie gedruckt, die einheitlich ist, ohne starr zu sein. Die Verlage Göschen, Crusius, Cotta, Reimer und viele andere befleißigten sich der gleichen Rechtschreibung, ohne daß ein amtliches Regelwerk sie ihnen aufgedrückt hätte. Die Abweichungen von unserer neuen Orthographie bestehen im wesentlichen in der schon um 1845 vollzogenen Ersetzung von y durch i in Wörtern wie seyn, bey, drey und in den von der preußischen und der bayerischen Regierung nach Gründung des Bismarck-Reichs durchgesetzten Änderungen, also der weitgehenden Ersetzung von th durch t in deutschstämmigen Wörtern, der Verwandlung der Endung -iren in -ieren und der Schreibweise der Endung -niß in -nis.

A propos: das Wörterverzeichnis des Amtlichen Regelwerks, das 1995 dem Reform-Edikt zugrundelag, enthielt kein einziges Substantiv auf -nis. Die Reformer waren sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht schlüssig, ob sie, in Konsequenz ihrer eigenen Regeln (Doppel-s am Wortende nach kurzem Vokal!), nicht die Schreibweise -niss verfügen sollten; sie beließen es dann bei der Umwandlung von ß in Doppel-s am Wortende nach kurzem Vokal. Am liebsten hätten sie das ß ganz getilgt, nach dem Vorbild der Schweizer Schreibmaschinen, die infolge der Vielsprachigkeit des Landes so viel Sonderzeichen haben, daß sie seit langem auf das ß verzichten, was insofern unrationell ist, als zwei Buchstaben gegenüber einem den doppelten Aufwand bedeuten. Den deutschen Ministerpräsidenten hat man das denn doch nicht zugemutet; es hätte Milliardenkosten verursacht, wenn man das Wort Straße auf allen Schildern hätte in Strasse verwandeln müssen (und die Koexistenz beider Schreibweisen über Jahrzehnte hin wäre auch nicht zuträglich gewesen). So willkürlich geht es bei Orthographiereformen zu; darum sollte man sie unterlassen, wenn sie nicht zwingend sind. Das sind sie aber kaum je, denn "der Glaube, daß es eine 'richtige' Schreibung gibt, der man durch die Reform näher kommen könnte, ist nicht einmal eine Fiktion, er ist einfach ein Irrtum" (Manfred Bierwisch).

IIWer keine Argumente hat, behilft sich mit Invektiven. Auf dieses ungute Spiel hat sich Rudolf Walther im Freitag eingelassen (1. September, Seite 13). Da verwandelt sich der Büchnerpreisträger Durs Grünbein, der sich in der F.A.Z. gegen die schadenstiftende Operation am Leib der Schriftsprache verwahrt hatte, in einen "Jungpoeten in Gottfried Benns zu großen Schuhen", und jener süddeutsche Studienrat, der in seiner Weilheimer Schule eine weit ausstrahlende Literaturarbeit leistet und auf allen Ebenen dazu beigetragen hat, daß der Widerstand gegen das Reformedikt die Öffentlichkeit erreichte, - dieser Friedrich Denk erscheint bei Walther als ein "wildgewordener bayerischer Gymnasiallehrer". Dem Sprachwissenschaftler Theodor Ickler aber, der das Reformpaket schon 1995 mit umfassender Sachkenntnis analysierte, unterstellt Walther, er opponiere nur, um selbst ein Rechtschreibwörterbuch "zusammenzubasteln". Ickler hat in der F.A.Z. vom 11. August den neuen Duden einer eingehenden Detailkritik unterzogen. Nicht mit einem Wort geht Walther auf die dort aufgewiesenen Widersprüche und Irrtümer ein; zu verunglimpfen ist ja viel leichter.

Rudolf Walther unterstellt den Kritikern der Reform, "den Untergang des Abendlandes" zu beschwören (bei keinem einzigen Kritiker habe ich jemals ein solches Wort vernommen); der F.A.Z. widmet er die Vermutung, sie hätte bei Abschaffung des ß wohl "zu Volksbewaffnung und Sabotage aufgerufen". Das ist satirisch gemeint; die Wortwahl gibt dennoch zu denken. Walther äußert selbst, daß es "im deutschen Sprachraum keine Instanz" gäbe, "die jedem verbindlich vorschreiben könnte, wie er zu schreiben hat"; auch das Bundesverfassungsgericht hat mit aller Deutlichkeit auf das Nicht-Bindende der neuen Regeln und Wortverfügungen außerhalb von Schulen und Ämtern verwiesen. Aber wenn eine erhebliche Zeitung diese Freistellung in Anspruch nimmt und zu Schreibweisen zurückkehrt, die gegenüber den neuen den Vorzug praktischer Bewährung und mangelnder Willkür haben, dann ist sie - ein Saboteur, wohl gar einer, der im Falle eines Falles zu den Waffen ruft. Saboteure und Diversanten: das ist eine nicht ganz unbekannte Klassifikation für alle, die sich den Anordnungen einer fortschrittlichen Obrigkeit nicht fügen.

Den Mangel an Argumenten überbietet R. Walther mit einer Behauptung, die die Redaktion ihrem Untertitel einbezogen hat: "Der Duden ist auch weniger ein Regelwerk als vielmehr eine Dokumentation des aktuellen Sprachgebrauchs". Zuvor hat er uns mitgeteilt, daß der neue Duden 169 Regel-Kennziffern enthalte, nicht ohne darauf zu verweisen, daß das 172 weniger als im alten Duden seien. Das ist insofern eine Milchmädchenrechnung, als der neue Duden oft mehrere Regeln unter einer Ziffer zusammenfaßt; Josef Kraus, der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, hat das mit Recht einen "Numerierungstrick" genannt ("Verlierer in Schulbänken", F.A.Z>. 28. 08. 2000).

Daß der neue Duden den aktuellen Sprachgebrauch dokumentiere, zeige sich, so Walther, daran, daß er Wörter wie "outsourcen", "mailen", "Hyperlink", "Junk Food" und noch fünftausend andere in sein Verzeichnis aufgenommen habe. Dieser Wörterbuch-Opportunismus gegenüber Fremd- und Unwörtern, die ihre Probe auf sprachliche Integration noch lange nicht bestanden haben, dient dem Dudenfreund dazu, dem Leser zu suggerieren, daß das neue Regelwerk nichts anderes als den Nachvollzug aktuellen Schreibgebrauchs betreibe. Aber wann hätten deutsche Autoren in Büchern oder Zeitungen jemals angefangen, eine Firma als Pleite gegangen, ein auch als sitzend oder liegend zu denkendes Subjekt als allein stehend zu bezeichnen, den Abend A-bend abzuteilen oder dem Substantiv Wiedervereinigung das Verb wieder vereinigen als einzig zulässiges zuzuordnen?

IIIChristoph Martin Wieland konnte mit Hilfe des Göschenschen Setzers in seinen gesammelten Werken noch die Probe darauf machen, ob man Philosophie nicht besser Filosofie schreibe; kein dudenbewehrter Korrektor fiel ihm in den Arm. Die Neuerung verbreitete sich nicht; es blieb, bis heute, bei Philosophie, und das mit Grund, denn das fremdartige ph enthält ja eine Information: es ist ein Wink, daß es sich um ein Fremdwort aus fremdem Alphabet handelt. Gleichwohl: in Vor-Duden-Zeiten konnten im Rahmen einer funktionierenden orthographischen Konvention Varianten ausprobiert werden. In unserer Zeit eines sich mit Computerhilfe immer weiter perfektionierenden Regulierungswahns war es nach dem alten Duden so schwierig, im Druck die Schreibweise "stattdessen" durchzusetzen, wie es nach dem neuen Duden schwierig ist, "statt dessen" zu setzen. Wie hätte Nietzsche auf die Duden-Zumutung reagiert, nach einem Doppelpunkt immer dann groß anzusetzen, wenn ein ganzer Satz folgt? Er hätte jeden, der ihm das auferlegte, für einen Banausen erklärt. Genau diese mechanische Regel stülpt gestern wie heute jeder Korrektor jedem Text über.

Es ist dieser Regelfetischismus, der ebendas verhindert, was uns Walther als Errungenschaft des neuen Duden nahelegt: daß er orthographische Veränderungen nachvollziehe, die sich bei Schreibenden und Lesenden bereits durchgesetzt haben. Wo das neue Regelwerk dem Schreibenden in objektiven Zweifelsfällen die Freiheit eröffnet, dem eigenen Sprachgefühl zu folgen, kann es für verdienstvoll gelten. Goethe hat binnen weniger Jahre die Schreibweise "im Stillen" und "im stillen" zugelassen, also die substantivisch und die adverbial akzentuierende Form, und in der Tat: hier gibt es einen Interpretationsspielraum; auch für Schiffahrt und Schifffahrt spricht annähernd gleichviel. Hier und in anderen begründbaren Fällen dem Schüler wie dem Autor einen Spielraum freizugeben und sich mit einer allgemeinen Orientierung zu begnügen, darf für produktiv gelten. Die seit dem Barock nicht mehr dagewesene Worttrennung E-cho oder O-fen zuzulassen und eine wohlverwahrte Kassette per Erlaß in eine wohl verwahrte zu verwandeln, ist dagegen schlicht Nonsens; es legt sich, wenn man sich vermißt, dergleichen per Erlaß für Schulen und Ämter anzuordnen, ohne sich zu einer Revision zu verstehen, tatsächlich als jene "Ungeheuerlichkeit" nahe, die Christian Meier, der Präsident der von den Reformern niemals ernsthaft befragten Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, darin sah.

Das neue Regelwerk ist nicht schlechthin töricht. Es enthält außer starken Anteilen des Absurden und des Überflüssigen einen rationalen Kern, der sich in der kritischen Debatte, die R. Walther disqualifizieren zu müssen glaubt, herauszuschälen beginnt. Wäre es den Reformern und denen, die ihre Neuerungen mit dem Staatssiegel versahen, um die deutsche Sprache zu tun gewesen, so hätten sie diese Debatte vor ihrer per Ukas durchgepaukten Reform geführt. Es hilft ihnen nicht, nun den Kopf in den Sand zu stecken und zu erklären, daß alles seinen Gang gehe. Es hilft ebensowenig, das Ende der deutschen Rechtschreibung auszurufen. "Die Dämme sind gerissen", jubelt Barbara Schweizerhof im Freitag und gibt die Losung aus: "Schafft ein, zwei, viele Orthografien!" Die Existenz einer einzigen Rechtschreibung scheint ihr einen "restriktiven Geheimbund" zu konstituieren, "der die Massen vom Zutritt in die heiligen Hallen des Schreibens abhalten soll". Wie wäre das: den Freitag in drei oder mehr Orthographien, das heißt ohne Korrektor, zu drucken? Es wäre ein Rückfall in frühe Zeiten der Schriftsprache, deren kulturelle Fruchtbarkeit wir nicht dadurch wiedergeewinnen können, daß wir die Recht- durch eine Willkürschreibung ersetzen.

Nicht Freiheit schlechthin kann das Ziel sein, sondern ein Anheimstellen in Grenzfällen, die ihrem Wesen nach zur Festlegung nicht taugen; sie zu erkennen setzt natürlich die Kenntnis der Regeln voraus. "Eine Kultur- und Zivilisationssprache wie das Deutsche", schrieb Manfred Bierwisch, der bedeutende Sprachwissenschaftler, in einem grundlegenden Artikel (Berliner Zeitung vom 26./27. August), brauche "einen Konsens der akzeptierten Schreibung". Es sei "eine Verkennung des Charakters sprachlicher Normen wie auch der Öffentlichkeit und der Rolle der schriftlichen Medien", fügte er hinzu, "wenn das Weisungsrecht der Behörde für ausreichend zur Durchsetzung sprachlicher Regeln angesehen" werde. Dies genau ist der Punkt. Er hat nicht nur mit Kultur, sondern auch mit Demokratie zu tun. Anarchismus hilft uns dabei ebensowenig weiter wie ein gereizter Fortschritts-Dekretismus. Daß beide sich zu Wort melden, deutet darauf, daß kein belangloser Gegenstand in Frage steht. Er hat außer seinem sachlichen einen paradigmatischen Gehalt und zeigt sich, auf seine Mechanismen angesehen, geradezu als Musterbeispiel für gesellschaftliche Fehlsteuerungen. Auch sie sind der Analyse bedürftig.

Für Sie oder Ihren Hasen

6 Monate den Freitag mit Oster-Rabatt schenken und Wunschprämie aussuchen

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden