Heinz Bude, der Soziologe und Generationsforscher, hat einmal darauf verwiesen, dass das Bewusstsein der europäischen Nationen sich in verschiedene Identifikations- und Orientierungskategorien füge: bei den Franzosen stifte die Nation, bei den Engländern die Klasse und bei den Deutschen die Generation diesen intensiven Bezug. Der Satz, will mir scheinen, gilt für die Identifikation nicht nur mit der eigenen Generation, sondern auch mit der Folge der Generationen - in einem Land, dessen nationale und staatliche Kohärenz ja immer wieder durch Zusammenbrüche und Einschläge, durch Raptus und Interruptionen verstört worden ist. Lasse ich die in ihrer Eigenheit immer wieder unterschätzte Nachkriegsperiode in den neugegründeten deutschen Ländern, also die Zeit vom Herbst 1945 bis zur Währungsreform im Juni 1948, außer Betracht, so befinde ich mich bereits in dem dritten deutschen Staat meines Lebens - und ein jeder von diesen hatte sich emphatisch-prinzipiell von seinem Vorgänger abgestoßen. Meine Eltern haben es buchstäblich auf fünf solcher Staaten gebracht. Fünf Staaten innerhalb von hundert Jahren, das macht im Mittel zwanzig Jahre pro Staat; in dem zu Ende gehenden Jahrhundert sind im östlichen Deutschland die Staaten - und zwar antagonale, den Vorgänger jeweils in den Sündenpfuhl der Geschichte stürzende Staaten - fast schneller als die Generationen aufeinander gefolgt. Kein Wunder, dass die Generationen bei solchem Wahnwitz Anhalt bei - den Generationen suchen, bei der Ahnenfolge, der Familiengeschichte, und hier eine Kontinuität in und durch alle Brüche finden, unauflöslich differente Staatsbegebenheiten auf den roten Faden der individuellen Genealogie ziehend.
Generation kommt von generare: erzeugen, hervorbringen. Das Wort ist in der deutschen Literatur von jungen Generationen oft genug (und oft sehr fruchtbar) als ein Sich-selbst-erzeugen, Sich-selbst-Hervorbringen gedeutet worden; der sehr deutsche Begriff des Originalgenies hat diesen Hintergrund. An der Bewegung, die ihn hervorbrachte, dem Sturm und Drang, wie man sie nach einer seiner Dramenhervorbringungen nannte (der Autor wurde später russischer General, übrigens ein fortschrittlicher), hat Goethe tätigen Anteil genommen, aber es ist nicht sein Begriff und lustig zu sehen, wann und wo er ihn erstmals verwendet: als Sechsundsiebzigjähriger im Blick auf - Joseph Haydn. "Hier aber", heißt es in dieser Miszelle, "werde noch einmal wieder erinnert, daß wir in Haydn nicht etwa ein vorzügliches Nachbild, sondern ein echtes Originalgenie vor uns haben, das sich nach Form und Gehalt aus seiner Vorzeit wie ein Phönix erhebt."
An Leidenschaft, reportiert der Autor einen bekannten Vorwurf, fehle es Haydns Musik? "Unser Haydn", lautet die Antwort, "ist ein Sohn unsrer Zone und wirkt ohne Hitze, was er wirkt; wer will denn auch erhitzt sein? Temperament, Sinn, Geist, Humor, Fluß, Süße, Kraft und endlich die echten Zeichen des Genies: Naivetät und Ironie müssen ihm durchaus zugestanden werden." Naivität und Ironie? Nun wissen wir doch, was ein Originalgenie ist, und hätten auch Brechts Beifall dabei, der, wie Goethe, als Originalgenie anfing und am Ende ein Klassiker war. Übrigens stammt der Text von Zelter, Goethe hat ihn durch eine nur leicht redigierende Übernahme in seine Zeitschrift Kunst und Altertum geehrt und die Chiffre Z. darunter gesetzt.
Der alte Goethe, der sich mit Zelter, den er relativ spät kennenlernte, nicht so intensiv hätte befreunden können, wenn sie nicht einer Generation angehört hätten, - der alte Goethe hat gegen Originalitätssucht, Originalitätshascherei immer wieder Front gemacht, mit Worten, die im Allgemeinen immer richtig und im Besonderen, Persönlichen sehr oft falsch waren; Byron ließ er gelten, Kleist und Hoffmann stieß er zurück, Beethoven und Schubert verwirrten ihn tief. Immerhin haben wir ihm eine Theaterszene zu verdanken, die die drastisch-komischste Beschreibung des Generationenkonflikts vorstellt, die sich denken läßt. Es ist jene Szene im zweiten Akt des zweiten Faust-Teils, in der der in das Wittenberger Laboratorium zurückgekehrte Mephistopheles sich eines hereinstürmenden Baccalaureus zu erwehren hat (es ist der einst diabolisch von ihm unterwiesene Schüler), der alles "Erfahrungswesen" herrisch als "Schaum und Dust" abqualifiziert. "Doch diesmal ist er von den Neusten", beschreibt der gealterte Teufel den dogmatischen Jungakademiker, "er wird sich grenzenlos erdreusten". Derselbe Autor, der hier die Anmaßung jugendlicher Abstraktionswut aufs Korn nimmt, bekennt sich ohne Zögern zu den Leitworten seiner Dichterjugend, wenn es in Weimar die Kinder vor der Polizei in Schutz zu nehmen gilt. "Es darf kein Bube", sagt er 1828 zu Eckermann, "mit der Peitsche knallen oder singen oder rufen, sogleich ist die Polizei da, es ihm zu verbieten. Es geht bei uns alles dahin, die liebe Jugend frühzeitig zahm zu machen und alle Natur, alle Originalität und alle Wildheit auszutreiben, so daß am Ende nichts übrigbleibt als der Philister."
Diese Sorge kann man von Fall zu Fall auch ins Ästhetische transponieren, gegen eine Bestimmung, wie Hegel sie in seiner Ästhetik von der Originalität gegegeben hat; nicht zufällig finde ich sie in einem 1986 in Leipzig erschienenen literaturwissenschaftlichen Wörterbuch. "Die echte Originalität des Künstlers wie des Kunstwerks", so Hegel 1820, "liegt nur darin, von der Vernünftigkeit des in sich selber wahren Gehalts beseelt zu sein." Und weiter: "In allem wahrhaftigen Dichten, Denken und Tun läßt die echte Freiheit das Substantielle als eine Macht in sich walten, welche zugleich so sehr die eigenste Macht des subjektiven Denkens und Wollens selber ist, daß in der vollendeten Versöhnung beider kein Zwiespalt mehr übrigzubleiben vermag."
Hier wird das anarchische Element der Kunst empfunden und abgewiesen, es wird in der Abweisung empfunden, und mit so noblen Worten das geschieht: die Frage liegt nahe, wer die Vernünftigkeit und den wahren Gehalt denn jeweils bestimme. Gegen die, welche sich dessen autoritativ vermessen, hat im Januar 1956 ein Leipziger Denker Front gemacht, der mit Hegel auf vertrautem Fuß stand, aber die Gefahren sehr genau erkannte, die in der Okkupation der Vernünftigkeit durch jene konsensstiftenden und konsenssichernden Gewalten liegen, deren die moderne Gesellschaft mit je eigenen Mitteln in jeder ihrer Erscheinungsformen, sei es mit oder ohne Börsennotierungen, unterliegt.
Der siebzigjährige Ernst Bloch berief damals, auf dem IV. Schriftstellerkongress der Deutschen Demokratischen Republik, den jungen Goethe gegen einen reglementierend-verengenden Umgang mit der jungen Literatur und tat es mit starken Worten, kräftigen Versen. "Ungenügend entwickelt", tadelte er in Gegenwart aller Chefideologen, "ist erstens der zwingende, der wütend fleißige Drang zu schreiben. Seltener als die politische Hingabe ist noch die Glut des Sagenmüssens, die unausweichliche. ÂSpring aus dem Bette wie ein Toller, nie war mein Busen seelevollerÂ, rief der junge Goethe. Und weiter im gleichen Ton, mit dem Wunschmaß des gleichen Morgenlieds: ÂDaß eine Schöpfung voller Saft mir aus den Adern quölle. Solche Begeisterung ist nur ihrer hitzigen Art nach auf Sturm und Drang begrenzt, nicht aber in Ansehung ihrer allgemeinen Wärme und Notwendigkeit. Und keinesfalls verlangt sie, dass einer ein junger Goethe sei, wohl aber ist sie für alle Künstler eine Bedingung, solche zu werden.
"Wenn das Genie weit über die Hälfte Fleiß ist", fuhr dieser Eingeweihte des Genius fort, "so gibt es doch eben diese Hälfte nicht ohne jenes Eifernde, welches
das Durchhaltende, Durchtönende macht samt dem stärksten Fleiß, dem des Plus ultra." Und nun kommt - Ulbricht und Abusch hörten zu, aber auch Georg Lukacs - der rechtens erhobene Zeigefinger: "Wird aber der schaffende Antrieb durch Besserwisser dauernd gestört, auf Grund verdinglichter oder gar von ihnen selber erfundener Verkehrsvorschriften, wird er so künstlich unentwickelt gelassen, dann besteht Gefahr, daß besonders Fruchtbringendes besonders unfruchtbar wird."
Auch das ist, mit völlig dramatischem Akzent, eine Generationen-Szene der deutschen Literatur, und sie ist denkwürdig: Ein Siebzigjähriger von entschiedenstem Temperament fordert die Jungen zu ebendem heraus, was ihnen die Älteren gern verkümmern möchten, zu dem furor poeticus, und beruft ihn mit einem Goethe-Zitat, das er womöglich selbst erfunden hat, denn in dem Mahomet-Fragment, dem er es zuschreibt, findet es sich nicht: "Herr, schaff mir Raum in der engen Brust!" Hier sehen wir Generation herausgefordert, sich als Selbsterschaffende zu setzen und durchzusetzen, von einem, dessen Schicksal es war, wurzelhaft einer Generation anzugehören, die sich an den Anfang neuer Dinge setzte, die die Welt mit sich selbst neu beginnen wollte und den Impetus des Sturm und Drang expressiv-expressionistisch wieder heraufrief. In dem, der hier sprach, war dieser Impuls noch im Alter so wirkmächtig, dass er zehn Jahre später mühelos Beziehung und inneren Anschluss, ja geistige Führerschaft gegenüber einer Generation fand, die das im westlichen Deutschland mit seinem starken Erneuerungsbedarf noch einmal versuchte.
Zur gleichen Zeit ging auch auf dem Acker, von dem Bloch 1957 abgetrennt worden war, die Saat auf. Eine junge Dichtergeneration trat auf den Plan, und wenn ihre Protagonisten auch nicht: "Spring aus dem Bette wie ein Toller!" riefen, so sang der eine doch: "Nirgends ist er zu Haus. / Wo ein Bleistiftstummel ist und Papier / zieht er die Schuh aus: / Hier / springe ich! Und er springt / wenn's sein muß auf dem Kopf, und singt..." (Karl Mickel: Porträt A. E.). Und der andere rief: "Unsere Gedichte sollen die Brüste mit Sonne panzern" (Volker Braun: Vorwort). Allen gemeinsam aber war der Ruf: "Herr, schaff mir Raum in der engen Brust!", erst recht außerhalb ihrer. Es war ein Sturm und Drang, der sich, trotz des lehrhaft angehauchten Namens, der sich für diese nach Raum und Zeit zusammenhängenden Poeten später einbürgerte und der zunächst ein bloßer Scherzname gewesen war: sächsische Dichterschule, gewaschen hatte und gewaschen wurde, von denen, die 1956 schon Bloch höchst verdächtig gefunden hatten. Später, nach dem Überstehen diverser Kopfwaschungen, wurde der eine Professor und der andere Geheimrat, wieder andere wurden, zeitweilig oder für immer, heimatvertrieben und fast alle wurden, da und dort, früher oder später, geadelt, wie es so geht in einer Generation. Nur russischer General ist keiner von ihnen geworden.
Fühlen sie sich heute manchmal wie jener altgewordene Karlos, den der Marquis Posa sich vorstellt, als er dem jungen, für den er sich opfert, eine Botschaft ausrichten lässt, deren Verse der achtzigjährige Thomas Mann 1955, in Weimar und in Stuttgart, gleichsam als seine Botschaft weitergab: "Sagen Sie / Ihm, daß er für die Träume seiner Jugend / Soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird, / Nicht öffnen soll dem tötenden Insekte / Gerühmter besserer Vernunft das Herz". Das ist eine merkwürdige dramatische Konstellation: ein junger Dichter, der sich selbst - Schiller ist an dieser Stelle Don Karlos - als altgeworden vorstellt und sich prognostisch vermahnt, nicht zu werden wie dieser bittere Alte mit seinen Goldschiffen und Armaden und der Schar der Höflinge ringsum.
Wir sehen die, welche heute jung sind, durchaus frei von dem Gestus jener überschwenglichen Selbstbehauptung, deren Voraussetzung die enge, eingezirkelte Welt ist, und müssen das nicht bedauern. Dass prononcierte Jugendbewegungen den Schwung, mit dem sie sich von dem schlechten Bestehenden abstoßen, oft nur aus sich selbst beziehen und dann leicht ins Leere, ins Irreale geraten, ist nicht zu verkennen; wo er fehlt, darf man getrost auf freundlichere Bedingungen schließen. Andererseits zeigt sich die herrschende Welt heute sosehr in einem Ungenügen, das, weit entfernt von Erwachsenheit, aus Unreife und Überreife, aus Infantilismus und Senilität aufs Sonderbarste gemischt ist, dass der Anprall eines neuen Lebensgefühls, Lebensbedürfnisses vielleicht die einzige Hoffnung ist, die ihr bleibt.
Kann die Literatur zu ihrem Organ werden? Oder haben wir mit dem sechsunddreißigjährigen Schiller über die "jetzige Generation" (so heißt dieses Distichon vom Januar 1796) zu sagen: "Nur das Alter ist jung, ach! und die Jugend ist alt"? Derselbe Autor fasst wenige Wochen später das Gegenbild in ein Epigramm, das "Erwartung und Erfüllung" überschrieben ist: "In den Ozean schifft mit tausend Masten der Jüngling, / Still, auf gerettetem Boot, treibt in den Hafen der Greis."
Die epochale Spannweite, in die dieser Autor sich gestellt sah, reicht von dem: "Wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige / Stehst du an des Jahrhunderts Neige!" aus dem Jahre 1789 zu dem: "Edler Freund! Wo öffnet sich dem Frieden, / Wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort?" im Jahre 1801, zum "Antritt des neuen Jahrhunderts". Zwölf Jahre, so zeigt sich, genügten, um eine Spätzeit in den blutigen Wirbel einer alleserschütternden Umwälzung zu reißen. Die Lösung, die Schiller für sich findet, ist kein Widerruf, aber ein Gegenstück zu dem Hymnus, mit dem der Fünfundzwanzigjährige den Anbruch eines neuen Äons herbeigesungen hatte. An die Freude lautete sein Titel, das neue Gedicht ist An die Freunde überschrieben und geht in die generationsübergreifende Einsicht aus: "Alles wiederholt sich nur im Leben, / Ewig jung ist nur die Phantasie, / Was sich nie und nirgends hat begeben, / Das allein veraltet nie!"n
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