Keine Schadenfreude, sondern Empörung meldet sich in mir, wenn ich die täglichen Berichte über Bespitzelung und die Verquickung des BND mit angeworbenen, bezahlten sowie mit Decknamen versehenen Journalisten höre, die sich als "Quellen" zur Verfügung stellten. Wie viel mehr erst mögen Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz in der kältesten Phase des Kalten Krieges, aber auch während des Tauwetters der Ost-West-Entspannung überall ihre V-Leute platziert haben - also das Pendant zu "unseren IM"? Und wer alles wurde in welchem Ausmaß überwacht? Wie viele Zuträger der westlichen Geheimdienste haben bei ihren Besuchen im Osten uns abgeschöpft, ausgehorcht und dadurch in akute Gefahr gebracht? Denn die Doppelspione auf beiden Seiten konnten ihre Quellen beidseitig ausfindig machen.
Es war nicht nur die Staatssicherheit im Westen aktiv, es agierten auch die westlichen Dienste im Osten. Eigentlich eine Binsenwahrheit. Einen Unterschied freilich gab es: Das demokratische System konnte sich stets auf die Zustimmung einer Mehrheit stützen; die im Osten übliche "Zersetzung" der eigenen Bürger war weder nötig noch möglich. Dennoch gab es im Westen gleichfalls subtile Kontrollmechanismen.
Auch wenn die jüngsten Enthüllungen über die Machenschaften des BND während des zurückliegenden Jahrzehnts temporär hohe mediale Wellen schlagen - die Debatte um die IM kleineren und größeren Kalibers aus DDR-Zeiten verebbt deshalb keineswegs. Hochgekocht nährt sie - die persönlichen und politischen Umstände eines Falles nur zu oft außer Acht lassend - westdeutsche Selbstgerechtigkeit und einen generellen Ostekel. Wie leicht konnte etwa ein 18-jähriger, politisch unbedarfter Sportler in der DDR, aufgewachsen mit einem beschränkten, aber geschlossenen kommunistischen Weltbild, in die Fänge der "Kämpfer an der unsichtbaren Friedensfront" geraten, weil er nur sein Fortkommen im Sport sah?
Gewiss, Spitzeldienste sind nicht zu rechtfertigen, aber sollten sie nicht hier und da auf mildernde Umstände rechnen können? Und dürfen sie in einem Rechtsstaat nicht auch verjähren? Dabei steht völlig außer Zweifel, dass die großen Schweinereien der Geheimdienste, die Entführungen, die persönlichkeits- und lebenszerstörenden Verhör- und Haftmethoden aufgeklärt und deren Opfer mehr Beachtung und nachträgliche Fürsorge erfahren müssen. Nur herrscht leider noch immer ein neurotisiertes, hysterisches Jagdklima, das dem kleinen Spitzel - dem IM - die niedrigste moralische Stufe zuweist, während die unverzichtbare Auseinandersetzung mit dem System der Geheimdienste vermieden wird. So bleiben einstige Auftraggeber und Stasibüttel inzwischen nicht nur ungenannt, sondern können sich auch problemlos öffentlich äußern. An solchen Punkten wird Demokratie schwer aushaltbar - aber so sind nun einmal ihre Grundbedingungen.
Was hingegen sehr viel wesentlicher wäre, geschieht nicht: Das Wesen von Geheimdiensten überhaupt wie die Selbstgefährdung von Menschen in derartigen Institutionen bleiben ausgeblendet. Wer Anatoli Rybakows Die Kinder vom Arbat oder Stadt der Angst gelesen hat, weiß über das Wesen des leninistisch-stalinistischen Systems auf bedrückende Weise Bescheid.
Als einer, der den kommunistischen Tschekismus glücklicherweise hinter sich weiß, frage ich deshalb um so nachdrücklicher: Welche verbrecherischen Praktiken gab und gibt es im Namen der Freiheit, welche dunkle Verselbstständigung der Geheimdienste selbst in demokratischen Staaten - besonders in den USA? Fast überall ein stinkender Pfuhl in staatlichem Auftrag. Die Menschenrechte und das Recht an sich oft außer Kraft gesetzt, wenn es um höhere Staatsinteressen ging und geht. Wer abmildernde oder verschärfende Vergleiche zwischen westlichen und früheren östlichen Diensten von sich weist, sollte bedenken: Die Demokratie beansprucht weitaus höhere moralische Maßstäbe als jede Form der Diktatur. Und die Nähe von Geheimdiensten zu Menschenzerstörung und Menschenverachtung ist fraglos groß.
Freilich scheint das demokratische System noch so weit zu funktionieren, dass es den Willen aufbringt, verfassungswidrige Übergriffe öffentlich zu diskutieren und untersuchen zu lassen. Das wäre in der DDR undenkbar gewesen - was um so mehr ein Argument für die dringend gebotene Aufarbeitung von Geheimdienst-Realitäten im Westen ist. Akteneinsicht und eine wissenschaftlich fundierte Untersuchung der teilungsbedingten Tätigkeiten des Bundesnachrichtendienstes und des Verfassungsschutzes würden daher eine differenzierende und umfassende Sicht auf die geteilte deutsche Geschichte nach 1945 erlauben. Neben der Birthler-Behörde mit ihrem Stasiunterlagengesetz bedürfte es eines BND-VS-Unterlagengesetzes, das die Akteneinsicht bei BND und Verfassungsschutz sowie die Tätigkeit einer entsprechenden Behörde regelt. Schützenswerte Geheimnisse könnten davon unberührt bleiben; nur bedürfte es der rechtlichen Klärung, was als "Staatsgeheimnis" zu gelten hat und was nicht. Ansonsten würde der Eindruck verstärkt, allein die Staatssicherheit stelle des Übels Kern dar, bliebe die Aufarbeitung dieses Teils unserer jüngsten Vergangenheit weiter mit dem Stigma der Siegerjustiz behaftet - betrieben von ewig im Gestrigen verhafteten Bürgerrechtlern und den mit Antireflexen aufgeladenen Westlern. Das bedeutet keineswegs, die menschenverachtenden Tätigkeiten der Staatssicherheit zu relativieren, verlangt aber, nach Einordnung in die Zusammenhänge während der Zeit des "Wettkampfes der Systeme" zu suchen, um der Wahrheit und Verhältnismäßigkeit die Ehre zu geben. Also: Akteneinsicht in die Hinterlassenschaften des Kalten Krieges!
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