Seit der öffentlichen Beichte Michel Friedmanns mit seinem pathetischen "Verzeihe mir, ich liebe Dich", gerichtet an seine jetzige Ehefrau Bärbel Schäfer, ist öffentliches Beichten samt aller medialen Inszenierung in Mode. Da weint Erik Zabel vor der Presse. Auf den ersten Seiten aller Zeitungen markerschütternde Fotos mit in den Himmel gefalteten Händen. Er legt öffentlich für seinen Sohn eine Beichte ab. "Ich will meinen Sohn nicht mehr anlügen", sagt er vor gierigen Kameras. Und der Sohn sieht die väterliche Beichte zu Hause im Fernsehen. Am nächsten Tag titelt Bild mit einem Foto des 13-jährigen Rick: "Sohn von Dopingsünder: Papa, ich verzeihe Dir".
Was hat das mit der Beichte als einem höchst vertraulichen Vorgang zu tun, in dem ein Mensch durch Wahrheit Entlastung erfährt? Zu dopen ist ein Vergehen, wird aber zur "Sünde" hin religiös aufgeladen, die dann eine "Beichte" erfordert. Worin besteht die Reue und worin die Besserung? Das Rad dreht sich längst weiter mit allen Akteuren!
Der Masseur des T-Mobile-Rennstalls D´hont gab zu Protokoll, "dass das ganze System dreckig" sei. Wie "dreckig" ist er selbst?
Kein Platz für Verlierer
Die Frage ist inzwischen, wer von unseren Spitzensportlern ist nicht gedopt - ja, lassen sich Spitzenleistungen etwa im Skilanglauf, Schwimmen, in der Leichtathletik oder im Gewichtheben überhaupt noch ohne künstliche Aufputschmittel erreichen? Ist nicht der ganze Sport als gigantisches Geschäft mit der Versessenheit auf Siege allein so beschaffen, dass Leistungssteigerung und Doping kaum mehr voneinander zu trennen sind?
Und dann geht es häufig nur noch um hundertstel Sekunden. Ein einziger der "Helden von gestern" hatte offenbar Glück: Uwe Raab nämlich, der dem Ansinnen, doch auch zu dopen, bereits Mitte der neunziger Jahre widerstand und ausschied. Warum wird nun aber nicht vermerkt, dass Raab schon in der DDR ein Idol, aber nicht gedopt war? Die Generalabrechnung mit dem DDR-Sport erweist sich als ziemlich selbstgerecht. So schlimm die Praktiken des DDR-Dopings und ihre gesundheitlichen Nachwirkungen auch waren - wir hatten es mit einem heißgelaufenen Kalter-Kriegs-Rennen zu tun. Das Ziel rechtfertigte die Mittel, die einen Erfolg ermöglichen konnten.
Uwe Raab sagt rückblickend, er "sei im Kopf kaputt gewesen". In der Tat, das ganze hochgesponserte Sportsystem ist kaputt und macht krank, weil es gnadenlos ist. Wer die Topleistung nicht bringt, ist weg. Gnadenlos.
Also machen die Athleten mit, was geht - wenn´s geht! - nur um zu siegen, um nicht "weg vom Fenster" zu sein. Was geht, ist all das, was nicht rauskommt. So ist man obsessiv nur auf den Sieg aus - nicht auf den Sport. Dafür werden die Athleten abgerichtet und getrimmt. Für Verlierer ist kein Platz. Also will keiner Verlierer sein und macht alles mit. Die Frage sollte also heute nicht mehr sein: "Wer hat gedopt?", sondern "wer hat nicht gedopt?" Wir wären schneller durch.
Alle Beteiligten sind inzwischen zu Kombattanten eines dreckigen Systems geworden, bei dem unlautere Methoden zu glänzenden Siegen führten. Die Siegideologie hat die Herrschaft über allen Anstand genommen - aus panischer Angst vor dem Odium des Versagers. Die "Freiburger Schule" hat ein lange schon kritisch beäugtes Sportmedizinersystem geschaffen - das bis zum Doping deutscher Jagdflieger zurückreicht.
Ein lange Zeit eingespielter Kontrakt ist aufgeflogen - ein stillschweigender Kontrakt zwischen Finanziers, Rennställen, Akteuren, Medien und einer sportbesessenen Öffentlichkeit. Alle wollten ihren Event, ihre Erregung durch Inszenierung. Vier von den fünf Beteiligten wollten ihren Gewinn, der sich materialisiert und sich nicht auf die Ehre des Treppchens beschränkt. Und das Sportpublikum wollte um die in Szene gesetzten Akteure fiebern, die im Falle wiederholten Siegens zu Idolen werden. Wehe aber, sie fallen!
Der Absturz eines Idols hinterlässt schmerzvolle innere Verwundungen und einen finanziellen Langzeitschaden. Jeder muss fragen, wovon nach dem Sport zu leben wäre. Man erinnere sich, wie aufgeregt gedrechselt Jan Ullrich vor einigen Monaten bei Reinhold Beckmann (keine) Auskunft gab und das Publikum erkennen musste, was offenbar zuvor abgesprochen war und nicht gefragt werden durfte. Dies wurde in der Sendung selbst offengelegt. Man hatte das unangenehme Gefühl, hier würde "nach Absprache" verschwiegen und gelogen.
Nun hat Beckmann durch eine einzige Generalbeichte geradezu eine Beichtlawine ausgelöst, bei der anfänglich noch für gutes Geld gebeichtet wurde. Was ebenso krankhaft ist wie eine sich erschaudernd delektierende Öffentlichkeit, die von den Medien durch solche Beichten aufgeputscht wird. Ein Sportredakteur und Moderator kommt als eine Art "Seelenkriecher der Nation" ganz groß raus.
Doch das alles gehört wohl uzm eingespielten System von Geben und Nehmen. Ein Aufmerksamkeitsschmarren bewegt die Nation und wird zum Dammbruch öffentlichen Beichtens - ohne Absolution, aber mit Dauerbeschädigung des Beichtenden. Würde Jan Ulrich, von dem zur Zeit reihenweise Fotos wie von einem Gejagten veröffentlicht werden, sein Schweigen brechen, wäre er über Nacht keine "Marke" mehr, die mit dem bloßen Herzeigen ihres Gesichts verdienen kann. Also entzieht er sich, schweigt und feuert seinen Anwalt. Der Dopingorgie ist eine noch lange nicht beendete Beichtorgie gefolgt. Den gedrechselten Unschuldsbeteuerungen Ullrichs folgte zunächst das tränenerstickte Schuldbekenntnis Zabels und manch andere "coole Beichte". Zurück bleiben Menschen, die deprimiert von sich sagen: "Ich habe mein Leben an der Garderobe abgegeben und werde sehen, was passiert" (Erik Zabel).
Man erinnere sich an die seinerzeit erregte Debatte um DDR-Staatsdoping samt den strafrechtlichen Konsequenzen auch für Ärzte. Was waren das für Ärzte in hippokratischem Eid? Und was sind das für Ärzte jetzt in Freiburg mit ihrem hippokratischen Eid?
Das DDR-Staatsdoping fußte auf einer Ideologie, die sich auch im Sport überlegen zeigen wollte. Verantwortungslos wurden Sportler gezüchtet, aber sozialistisch, das heißt für die sozialistisch-patriotische Ehre, nicht für gutes Geld, doch mit einigen Privilegien.
Das bundesrepublikanische Sponsoren- oder Konzerndoping zielt auf einen Höchstgewinn, der außerhalb des Sports liegt. Die Sponsoren wollen Sieger sehen und sonst nichts. Dagegen hilft keine öffentliche Reue. Wem sollte sie nützen? Wer soll wem warum mit welchen Folgen verzeihen? Und wer will wen anklagen?
Das System selber ist korrupt, krank, schmutzig. Die Radfahrer sind Rädchen im Geldgewinnsystem des Sports - die Medien, auch die öffentlich-rechtlichen, längst verquickt mit Sponsoren, die Sportler mit ihren Signets drapieren. Und deshalb gilt: Wo unlautere Methoden zu glänzenden Siegen führen, wo die Siegerideologie mit der Angst vor dem Verliererodium einhergeht, wird es weiterhin verschleiertes Doping geben - und sei es durch Menschenzüchtung dank Genmanipulationen.
Wenn schon - dann Massenbeichten
Mit dem Sport und den bisher offengelegten schmachvollen Manipulationen steht "die kapitalistische Weltanschauung" insgesamt zur Debatte. Ein System ist kaputt, wo die Versuchung zur Manipulation so groß ist, weil das Siegen so groß und so reich macht. Die Sport-Idole sind nichts anderes als die Edel-Sklaven des 21. Jahrhunderts, Gefangene eines Geldsystems - das Eigentum ihrer "Rennställe" in den Arenen zur Volksbelustigung.
Hier geht es nicht nur um das Fehlverhalten einzelner Sportler, sondern um ein perverses Gewinnmaximierungssystem, das Sport zu einer Frage der aufgeheizten Sensation und des großen Geldes macht. Wer an Wettbewerben teilnimmt und ohne Sieg bleibt, wird so marginalisiert oder an den Pranger gestellt, dass er - mit dem Kainsmal des Verlierer versehen - um seine Lebensbalance bangen muss. Aber ist eine Gesellschaft nicht so menschlich, wie sie es versteht, mit ihren Verlierern menschlich umzugehen, im Sport und überall in der Gesellschaft?
Wenn schon Beichten vor Massen, dann Massenbeichten aller Beteiligten: Wir haben gedrängt, gelockt, überredet, bestochen, gedroht, gespritzt, gezahlt oder Zahlung entzogen. Besser wäre, man ließe die Beichte nicht weiter zum medialen Event verkommen - sie bliebe wie bisher dem zwischenmenschlich Vertraulichen vorbehalten.
Die Faszination des sportlichen Wettbewerbs - so spannend, so schön, so dramatisch - wird längst von der Versessenheit auf Sieggelder verdorben. Es offenbart sich ein explosionsartig globales, frei agierendes Gesellschaftssystem, das allein auf den Antrieb nach Sieg und Macht, Raffen und Gewinnen, Misstrauen und Eigeninteresse, Reichtum und Genuss zu setzen versteht - und anderen Motiven menschlichen Handelns wie Hilfe und Mitgefühl, Freundlichkeit und Fürsorge, Bescheidenheit und Dankbarkeit, Schutz von Schwachen und Verlierern, Vertrauen und Demut abgeschworen hat. Auf diese Weise werden menschliche Beziehungen brutalisiert und barbarisiert - die Vorgänge im Sport sind ein Menetekel für unsere Welt.
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