Ob die Verfolgung von acht Indern durch einen entfesselten 50-köpfigen Mob einen organisierten rechtsradikalen Hintergrund hat, scheint dem sächsischen Ministerpräsidenten die wichtigste Frage zu sein. Er warnt deshalb vor Vorverurteilung und weist auf den möglichen wirtschaftlichen Schaden hin. Dabei ist doch eines klar: Einheimische haben Ausländische verfolgt, geschlagen und in Todesangst versetzt. Nur dem mutigen Einsatz einer nicht sehr großen Polizeieinheit ist es zu verdanken, dass es nicht zu noch Schlimmerem kam. Rechtsextrem-rassistisch oder nicht - es war eine Jagd auf Fremde. Es war ein gewaltiger Exzess, der sich ausschließlich gegen Dunkelhäutige richtete.
Fremdenfeindlichkeit gibt es, seit wir von menschlichem Zusammen- und Nebeneinanderleben wissen. Darin stecken archaische Ängste vor denen, die von draußen kommen, oft angereichert mit Vorurteilen und Feindbildern. Man lese einmal nach, wie der Mob in Sodom gierte (Gen. 19) oder was Medea als Fremde erlitt. Xenophobie - also Fremdenangst und Fremdenfeindlichkeit - zu überwinden, gehört zu den zentralen zivilisatorischen Leistungen. Das elementare Menschenrecht ist stets gefährdet. Zivilität und Humanität sind in dem positiv formulierten ersten Satz des Grundgesetzes fixiert, wenn es heißt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Der Staat hat also dem Menschenrecht zu dienen; dies muss freilich durch den Bürger ergänzt werden, der diesen Satz persönlich als demokratisches, zivilgesellschaftliches, menschenrechtliches Credo übernimmt und es dem Staat nicht allein überlässt, die Gültigkeit dieses Grund-Satzes zu garantieren.
Wenn man aufwächst mit abwertenden und abwehrenden Redensarten über andere Völker, so kann dies sehr bald - beim geringsten Anlass - zu Exzessen führen. Eine amorphe Masse kann offenbar im Augenblick zum Mob werden. Anführer finden sich. Wenn man im Taxi, im Zeitungsladen oder beim Volksfest hört: "Denen da (also den Fremden) wird alles vorne und hinten rein gesteckt, und wir haben keene Arbeit" - ist dies ein Vorspiel für den gewalttätigen Ausbruch von Wut und Ressentiments.
Was in Mügeln geschah, war sicher ein Konglomerat aus Frust und Neid, aus Minderwertigkeitsgefühlen und Enthemmung durch Alkohol. Soweit bisher erkennbar ist, sind die Gewalttätigkeiten aus einer Rangelei im Tanzzelt heraus eskaliert. Da reicht ein Funke. So etwas kann in jeder Stadt, bei jedem Volksfest passieren. Nun hat die kleine Stadt Mügeln das Etikett weg, aber wir alle - ob wir in Wittenburg, Wittenberg oder Wittenberge wohnen - müssen wissen: Das kann bei uns genauso ablaufen. Dies aber "dem Osten" zuzuschreiben, wäre falsch, und es der DDR zuzurechnen, noch falscher. Dass solche Gewaltexzesse in letzter Zeit zumeist im Osten stattfinden, hat durchaus etwas mit der sozialen Lage und beruflichen Perspektivlosigkeit zu tun, ohne dass dieser Befund in irgendeiner Weise dazu dienen könnte, Gewalt zu entschuldigen.
Aber Vorgänge wie in Mügeln sind damit zu erklären, dass viele junge Leute sich heute eher bei "den Rechten" zusammenrotten, dort ihr Selbstbewusstsein "national" aufpeppen und sich mit ihren Aktivitäten als vaterländische Verteidiger empfinden. Wir haben viel zu wenige attraktive Freizeitangebote für junge Leute, die sie motivieren, ihnen so etwas wie Gruppengeist und Gemeinschaftsgefühl vermitteln, ihnen Erlebnisse und lohnende Ziele geben. Gegen rechte Stimmungen wird man nicht ankommen können, indem man immer nur "gegen Rechte" ist, "Programme gegen Rechts" auflegt und diverse Tagungen "gegen Rechts" abhält, sondern indem man - flächendeckend - jungen Leuten Lebensperspektiven gibt und sie persönliche Ziele finden lässt. Exzesse wie in Mügeln weiterhin der nachwirkenden DDR zuzuschieben, lenkt von der Verantwortung des demokratischen Gemeinwesens ab.
Richtig ist wohl, dass die DDR ideologisch zwar ganz und gar nicht rassistisch war, aber alles Rassistische im Lande tabuisierte, statt darauf zu reagieren, und ein Schwarz-Weiß-Denken pflegte. Die Menschen, die sich jetzt auf acht Inder stürzen, sind zumeist nach der DDR-Zeit geboren und erzogen worden - sie sind unser aller nicht gelöstes Erziehungsproblem. Sie verkörpern zugleich in einer globalisierten Welt der Dumpinglöhne ein sich aufladendes soziales Problem, das ein Aufflackern solcher Exzesse wie in Mügeln begünstigt.
Und noch etwas: Es gibt Superschlaue, die mehr Zivilcourage der zuschauenden Bürger anmahnen. So richtig das ist, so sehr möchte ich den sehen, der sich einem enthemmten Mob als Einzelner entgegen wirft. Dass es eine massenhafte, spontan sich bildende Gegenwehr gibt, ist sehr unwahrscheinlich. Aber jeder kann sofort die Polizei alarmieren!
Unbestreitbar gehört es zur Zivilcourage, gegen ein ressentimentgeladenes Denken überall und gegenüber jedermann einzutreten, anstatt ins Horn dumpfer und dummer Argumentation zu blasen, anstatt es für zwecklos zu halten, dem all-täglich entgegenzutreten - wenigstens entgegenzureden! Wir alle haben in einer entgrenzten Welt noch schwierige Lektionen im Umgang mit Fremden auf uns zu nehmen - wir alle müssen lernen, unsere archaischen Antriebe in Konfliktsituationen zu zivilisieren. Die Würde des Inders ist unantastbar.
Genau 15 Jahre liegen die Ausschreitungen gegen die Vietnamesen in Rostock-Lichtenhagen und die unauslöschlichen Bilder von den Beifall klatschenden Neubaubewohnern zurück. Ein Jahr ist es erst her, dass die Deutschen in einem friedlichen Rausch lebten. Schwarz-Rot-Gold - wohin das Auge schaute. Das beschwörende Motto hieß: "Die Welt zu Gast bei Freunden." Die Gastgeber der Weltmeisterschaft fühlten sich nicht nur auf dem Fußballfeld, sondern auch als Volk bestätigt: fröhlich feiernd, weltoffen. Kaum ein nationalistischer Ton war hörbar. Hatte doch der Fußball eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit und nationaler Identität befriedigt. Nach einem großen Wir, das sich auf eine gänzlich unpolitische und gänzlich unaggressive Weise zeigte. Es wurde gekämpft, aber eben fair: nicht mit Gewalt, sondern mit Regeln. Deutschland schien vor einem Jahr in der Normalität von Nationalbewusstsein und Nationalstolz angekommen und dies schichtenübergreifend. War das eine temporäre Selbstdisziplinierung?
Nach Mügeln nun scheint alles wie weggewischt. Und der ganze Osten wird erneut bezichtigt, besonders gewalttätig und fremdenfeindlich zu sein. Je mehr so pauschal denunziert wird, desto vehementer wehren Kommunal- und Landespolitiker ab und mahnen zur Vorsicht beim Urteil. Doch welche Vorsicht ist angebracht, wenn acht Menschen durch eine Stadt gejagt werden?
Das Archaische siegt so leicht über das Zivilisatorische, die Glasur des zivilisierten Umgangs miteinander ist sehr dünn. (Die Empörung über Gewalt an Ausländern sollte diese indes nicht unversehens idealisieren und unterstellen, sie seien bessere Menschen. Gewalt und Gegengewalt sind im Eskalationsprozess zuweilen unentwirrbar.)
Es werden in Deutschland - im Osten wie im Westen - aber auch in allen anderen Ländern noch manche Lektionen zu lernen sein. Eine der ersten lautet: Die Staatsmacht muss funktionstüchtig bleiben, um Gewalt notfalls mit Gewalt einzudämmen. Gefordert ist zudem die Denk- und Gefühlsleistung jedes Einzelnen, Fremdenfeindliches nicht wach werden zu lassen. Auch wenn die Redewendung abgestanden erscheint: "Mügeln ist überall." Überall gilt: Die Würde des Inders ist unantastbar, weil Inder Menschen sind, wie alle anderen auch. "Alle sind Ausländer - fast überall."
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