rückkehr aus prag
dresden frühjahr 1968
eine lehre liegt mir auf der zunge, doch
zwischen den zähnen sucht der zoll
Reiner Kunze
Im August 1966 erlebte ich bei einer Ost-West-Begegnung in Ostberlin den tschechischen Philosophen Milan Machovec, - endlich ein Marxist, der mit sich reden ließ. Er verzichtete auf einen alleinigen Wahrheitsanspruch, hörte zu, kannte sich bei anderen Positionen aus, konnte auf charmante Weise im Gespräch bestehen. Solch einen Marxisten hatte ich noch nie erlebt, lange vergeblich darauf gehofft. Warum aber redete ein Tscheche nicht in der DDR, sondern nur auf Einladung von Westdeutschen in Ostberlin? Also fasste ich mir ein Herz und lud ihn nach Halle ein. Er war noch nie in der DDR gewesen.
Am 30. Januar 1967 hielt er auf meine Einladung - ich war Vertrauensstudent der Evangelischen Studentengemeinde - hin einen Vortrag, den wir unter der Überschrift "Die Bergpredigt und der Marxismus" plakatierten. Der Abend fand riesige Resonanz. Auf dem Heimweg ins Hotel fragte ich ihn, warum sich in der politischen Wirklichkeit nichts bewegt. Schließlich sei er doch Ordinarius für Philosophie in Prag. Er antwortete: "Junger Freund, warten Sie nur ein Jahr, dann werden Sie sehen."
Ich reagierte wie der ungläubige Thomas. Ich sah nichts, nur die schroffe Abgrenzungsideologie der Ulbricht-Ära, "keine ideologische Koexistenz", hieß die Parole, und politische Koexistenz galt nur als Überlebensvernunft angesichts gegenseitiger Vernichtungsangst. Im Januar-Plenum 1968 wurde Dubcek zum Parteichef gewählt. Meine Freunde und ich - wir alle wie elektrisiert, saugten alle uns zugänglichen Informationen begierig auf, zum Beispiel auf der Kurzwelle von Radio Prag. Wir bekamen die Zweitausend Worte und die Tausend Worte herübergeschmuggelt. Wir schrieben sie ab und verbreiteten sie.
Wir bibberten mit, als die kommunistischen Staatschefs sich im Juni in Warschau trafen und die neue tschechische Führung unter Druck setzten. Wir bibberten täglich, stündlich mit, als die Sowjettruppen nach Manövern im Juni bis Anfang August 1968 nicht abziehen wollten. Wir bibberten mit, als die Gespräche in dem kleinen Grenzort zur Sowjetunion, in Cierna in jenem berühmten Eisenbahnwagen zwischen Breschnew und Kossygin einerseits Dubcek und Cernik andererseits stattfanden, eine gewaltlose Lösung möglich schien, ohne allerdings die CSSR aus dem Ostblock herauszulösen. Endlich die Verbindung von Freiheit und Gerechtigkeit, endlich ein intellektueller Dialog! Die Wiener Paulusgesellschaft hatte den Boden bereitet, ebenso wie die Kafka-Konferenzen von 1963/65 in Liblice.
Am 12. August reiste ich mit meiner Freundin nach Prag. Wir erlebten Überwältigendes. Nächtliche Diskussionen, Tausende und Abertausende Menschen. Das Volk war auf der Straße. Arbeiter und Angestellte, junge Leute, Frauen und Greise diskutierten mit Funktionären. Diese stellten sich den Fragen, selbst Kommandeure von Kampfgruppen. Vor allen stand die Angst vor einem sowjetischen Eingreifen wie 1956 in Budapest. Deswegen sollte alles ohne Gewalt ablaufen, ohne Provokationen. Die gesellschaftliche Umwälzung kam von oben, kam aus der Partei selbst und fand im Volk breite Zustimmung. Zustimmung artikulierte sich massenhaft auf den Straßen. Aufregend und befreiend war das für einen eingemauerten DDR-Deutschen aus Ulbrichts SED-Staat!
Wir trafen auf westdeutsche Studenten, linke zumal, gänzlich interesselos für uns. Auch hatten sie mit ihrem Westgeld keine Schwierigkeiten gehabt, Quartier zu finden, anders als wir. Und sie setzten in Prag ihr ´68 fort. Ihre Gegner waren das westdeutsche Establishment und die Amerikaner in Vietnam. Sie intonierten ihr Ho-Ho-Ho-Chi-Min-Stakkato in Ufleku. Für Ostdeutsche hatten sie null Interesse. Wir lebten im "real existierenden Sozialismus", sie in ihrem Abstraktum. DDR-Bürger zu sein war östlichen Staaten wie gegenüber Westlern geradezu ein Makel. In Prag lag viel Angst in der Luft, aber noch sehr viel mehr Hoffnung. Ein Universitätsdozent zeigte uns stolz seine "Stadt im Aufbruch".
Wir erlebten, wie Zigtausende auf die Burg strömten, als Tito zu Besuch kam. Sie sagten uns, das sei die erste Demonstration, zu der sie nach 1945 freiwillig gekommen seien. Sie kamen in Massen, mit eigenen Plakaten: "Tito da, Ulbricht nee". Spontane Begeisterung, als Tito an uns vorüber fuhr und sich Dubcek am Fenster des Hradschin zeigte. Es war die Freiwilligkeit, es war der Veränderungswille, es war die Fröhlichkeit, und es war der Ernst, die politische Besonnenheit, die uns bei den Tschechen faszinierte.
Vielen ging Dubcek nicht weit genug. Er hatte stets das Durchsetzbare und von Moskau noch Tolerierbare im Blick zu behalten. Frühmorgens am 20. August reisten wir zurück. Am 21. August weckte mein Vater mich mit dem unvergesslichen Schmerzsatz: "Friedrich, steh auf! Die Russen sind in Prag einmarschiert." Was hatte mein Vater da gesagt? Steh auf! Aber ich war gelähmt. Als die russischen Truppen am 10. Oktober 1968 nach Halle zurückkehrten und die Bürger aufgerufen worden waren, sie festlich zu empfangen, kamen die Massen, ein wenig lustlos, aber sie winkten, ja sie winkten den Kolonnen zu. Ich organisierte eine kleine Aktion. Wir kletterten während der Begrüßungsreden auf die gepanzerten Fahrzeuge und fragten die Soldaten nach Warum und Wozu. Mir unvergesslich Horst Sindermanns Drohung auf dem so genannten Meeting: "Wir warnen jeden, mit in die Mülltonne unserer Feinde geworfen zu werden." Der Traum war zu Ende, der menschliche Sozialismus zu Grabe getragen.
Bis 1989 hatte zu den Dokumenten, die ich bei Reisen regelmäßig auf dem Boden versteckte, die Abschriften der Zweitausend Worte von Juni 1968, "gewidmet den Arbeitern, Bauern, Angestellten, Wissenschaftlern, Künstlern und allen" gehört, verfasst von dem tschechischen Schriftsteller Ludvig Vaculik. "In diesem Frühling ist von Neuem wie nach dem Krieg eine große Chance zu uns zurückgekehrt. Von Neuem haben wir die Möglichkeit, unsere gemeinsame Sache in die Hände zu nehmen, die den Arbeitstitel Sozialismus trägt und ihr eine Gestalt zu verleihen, die unseren einst guten Ruf und der verhältnismäßig guten Erinnerung entspräche, die wir ursprünglich von uns hatten. Dieser Frühling ist soeben zu Ende gegangen und wird nie wiederkehren. Im Winter werden wir alles erfahren." Sein Text hatte damit begonnen, daran zu erinnern, dass der Sozialismus, der mit einer großen Hoffnung verbunden gewesen war, aber nach 1945 in die Hände unrechter Leute gekommen sei. "Es hätte nicht so sehr geschadet, dass sie nicht genügend staatsmännische Erfahrungen, sachliche Kenntnisse und philosophische Bildung besaßen, wenn sie wenigstens mehr gewöhnliche Weisheit und Anstand gehabt hätten, die Meinung anderer anhören zu können, und ihre schrittweise Ablösung durch Fähigere zugelassen hätten."
Josef Smrkovsky war damals Vorsitzender der Nationalversammlung und hatte mit Tausend Worten geantwortet. Er musste die praktisch politische Dimension im Blick behalten - die Russen im Nacken. Das war politische Gesprächskultur, wie sie uns elektrisierte. Smrkovsky hatte gewarnt: "Lassen wir nicht zu, dass Leidenschaften, eine Psychose der Rache und Revanche erregt werden. Erlauben wir nicht, (...) dass die Eingriffe gegen jene, die das Gesetz zur Verantwortung ziehen wird, in irgendeiner Hinsicht ihre Familienangehörigen, insbesondere ihre Frauen und Kinder, bedrücken. Selbst die unerlässliche Ablösung der Menschen in unserem Staats- und Parteiorganismus müssen sich (...) in diesem Geiste vollziehen: würdig, human und demokratisch." Er wollte keine Exkommunikation oder Ausstoßung aus der Nation. Er wollte keine Säuberungen wie unter Stalin. Das sollte das Neue sein.
Wer hätte damals geahnt, dass genau aus diesem Geist heraus 21 Jahre später die demokratische, friedliche Umwälzung im sowjetischen Machtbereich vollzogen werden konnte - mit einem sowjetischen Generalsekretär, der zum Dialog fähig und willens war. Bei seinem Besuch 1986 in der Tschechoslowakei hatte er indes kein korrigierendes Signal gegen die 68er-Invasion ausgehen lassen. Selbst Gorbatschow musste politische Rücksicht nehmen und Schritte zur Demokratisierung vorsichtig gehen. Das war und das blieb seine Krux. Eine Demokratisierung unter sozialistischem Vorzeichen erwies sich als (nicht mehr) möglich. Zu den Texten, die unmittelbar nach dem Einmarsch der Warschauer Pakttruppen die Hoffnung wach zu halten versuchten, gehörte Wolf Biermanns Lied: Das Land ist still. Noch sowie Reiner Kunzes Sensible Wege.
Wenn ich zurückblicke, dann erscheint es mir, als ob der Prager Frühling ein Kampf um Worte war, um das freie Wort. Wir begegneten der mächtigen Angst derer, die das freie Wort fürchten mussten und gerade mal so viel Verstand hatten, zu erkennen, welche der freien Worte ihrer Macht gefährlich würden. Sie spürten, dass sie sich der freien Diskussion nicht stellen konnten, weil sie unterlegen gewesen wären. Ihr hypertropher Wahrheitsanspruch war ein mit ideologischer, militärischer und geheimdienstlicher Macht abgesichertes Wahngebilde - unter hehren Parolen. Jeder Dialog wurde unterbunden. Es war eigentlich pure Angst, die in der Gestalt der Macht daherkam.
Die in Wien ansässige Paulus-Gesellschaft unter Kardinal König sowie Theologen, die das Denken eines Ernst Bloch für die Theologie fruchtbar machten, hatten schon seit Mitte der sechziger Jahre einen Dialog begonnen, der insbesondere um das Menschenbild kreiste, indem man auf Frühschriften von Marx zurückgriff. Was bei uns bis dahin im Giftschrank gestanden hatte, wurde 1968 veröffentlicht. Vom frühen Marx aus war ein echter Dialog möglich, zumal Marx hier noch unideologisch sein Menschenbild entfaltete - über die Befreiung von jeglicher Entfremdung, über den Selbst-Gewinn durch Arbeit, über Humanisierung der Natur und die Naturalisation des Menschen.
Ernst Blochs Auslegungen der Feuerbach-Thesen, Kritiken von Marcuse über eine Gesellschaft, in der alles vergegenständlicht und auch der Mensch zu einer Ware wird, sowie Aufsätze von Erich Fromm mit dem Titel Die Revolution der Hoffnung bestimmten eine lebendige Debatte, allerdings ohne SED-Marxisten. Was die Dissidenten so gefährlich erscheinen ließ? Dass sie meist keine Antikommunisten waren und sich auf die Quellen zurückbezogen, sie kritisch analysierten und auf die eigene Gegenwart anwandten. Das gehörte zur List der verwandelnden Wahrheit. Unerwartete Sätze von Karl Marx: "Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen etc. Wenn du die Kunst genießen willst, musst du ein künstlerisch gebildeter Mensch sein; wenn du Einfluss auf andere Menschen ausüben willst, musst du ein wirklich anregender und fördernd auf andere Menschen wirkender Mensch sein. Jedes deiner Verhältnisse zum Menschen - und zu der Natur - muss eine bestimmte, dem Gegenstand deines Willens entsprechende Äußerung deines wirklichen individuellen Lebens sein. Wenn du liebst, ohne Gegenliebe hervorzurufen, das heißt, wenn dein Lieben als Lieben nicht die Gegenliebe produziert, wenn du durch deine Lebensäußerung als liebender Mensch dich nicht zum geliebten Menschen machst, so ist deine Liebe ohnmächtig, ein Unglück."
Das war es: Das Wiedereinsetzen des Individuums in sein Recht, statt den Menschen bloß als Gattungswesen zu definieren, das bestimmte Funktionen in der Gesellschaft als "vergesellschafteter Mensch" auszuüben hätte. Marx wurde in vielem zum Kronzeugen für eine emanzipatorisch-sozialistische Aufbruchsbewegung, die den Menschen wieder in sein Recht einsetzen und ihm ein nicht entfremdetes Dasein ermöglichen, ihn in ein Verhältnis zur Natur zurückbringen sollte, in der es im Verhältnis zwischen Mensch und Natur keine Verlierer gibt. Das wäre auch eine hilfreiche Maxime für heutige ökologische Debatten!
Dies alles mag nach 40 Jahren als uninteressante Spiegelfechterei gelten. Es war damals unmittelbar wirksam in These und Antithese, bis die Panzer kamen und keinerlei These und Antithese mehr gelten ließen. Es war ein Gedanke in der Welt, der nicht mehr herauszubringen war. Er suchte sich hoffnungsstiftende Gestalt in dem Konzept, das Josef Smrkovsky als das Ideal der Untrennbarkeit von drei Begriffen zusammengefasst hatte: Sozialismus, Demokratie, Humanismus. Diese Erinnerung bleibt ein Stachel im Fleisch des heute obwaltenden globalen Neoliberalismus, der der Welt keine Hoffnung zu bieten hat.
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