Über einen Politiker zu sagen, er sei unbestechlich, traut man sich kaum noch. Aber Egon Bahr ist unbestechlich, vertrauenswürdig, verlässlich.
Als ich mich im Dezember 1989 vor dem SPD-Parteitag in Westberlin öffentlich für einen Dialog mit den SED-Reformern aussprach und ebenso öffentlich Widerspruch von einem gewissen Ibrahim Böhme erntete, kam Bahr zu mir und drückte mir die Hand.
Zwölf Jahre später schrieb er im Tagesspiegel unter der Überschrift Versöhnen statt Spalten, dass wir uns "von der Vergangenheit nicht dumm machen lassen sollen. Wie ernst ist uns eigentlich noch das Ziel der inneren Einheit durch Versöhnung? ... 1989 hat die SED-Führung - erstmals ohne Moskau zu fragen - souverän gehandelt und den Weg zur Einheit freigelegt, durch die das Land wieder zum Subjekt der Geschichte wurde. Ein Denkmal für den Mauerfall sollte daran erinnern, dass der Druck der Ostdeutschen, nicht der Westdeutschen, das monströse Ding beseitigt hat. Es könnte versöhnen, weil es zeigte, dass unser Volk fähig ist, etwas Unmenschliches zu etwas Positivem zu wenden, aus einer Niederlage einen Erfolg zu machen, durch Politik friedlich und gewaltfrei. Die Vergangenheit darf den Weg in die Zukunft nicht versperren."
Solches Denken hat bei Egon Bahr Kontinuität. 1963 schon spricht er vom "Wandel durch Annäherung"; sechs Jahre später kann er dieses Konzept politisch gestalten. So oft gibt es das nicht in Deutschland, dass jemand eine Idee entwickelt und dann noch über die Begabung verfügt, seiner Real-Utopie mit langem Atem - und mit Erfolg! - zu dienen. Dabei hat sich Bahr nie in abstrakten Prinzipien verloren, sondern lieber konkrete Verantwortung für Menschen in einer vorgegebenen Situation wahrgenommen.
Es nützt wenig, sich über Realitäten hinweg setzen zu wollen; erfolgversprechend ist nur ein Handeln, das von Realitäten ausgeht, unabhängig davon, ob sie einem passen und ob die Personen auf der anderen Seite einem zusagen oder nicht. Wer so handelt, muss Rückschläge hinnehmen, Anfeindungen und Verdächtigungen ertragen können. Bahr hat das zur Genüge getan.
"Nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen, nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit", schrieb Dietrich Bonhoeffer im Jahr 1943. Wer nichts tut, tut nichts Falsches - und wer handelt, wagt zu scheitern und setzt sich den Ambivalenzen der Wirklichkeit aus.
Bahr ist dem nie ausgewichen. 1966 wird er Ministerialdirektor im Auswärtigen Amt, 1972 ist der Grundlagenvertrag zwischen beiden deutschen Staaten unterzeichnet. Als Minister für Wirtschaftliche Zusammenarbeit betont er den großen Stellenwert von Entwicklungshilfe als Faktor weltweiter Friedenspolitik. 1979/80 formuliert er seine Vorbehalte gegen den NATO-Doppelbeschluss und entwickelt zusammen mit Olof Palme das Prinzip Gemeinsamer Sicherheit, weil Sicherheit nicht mehr gegeneinander errüstet, sondern nur noch miteinander ausgehandelt werden kann. Bahr verbindet den Abbau der Militärpotenziale mit dem Abbau von Feindbildern, was die politische, die ökonomische und menschliche Annäherung zwischen West und Ost befördert. Ohne seine Entspannungspolitik und ohne die Schlussakte von Helsinki (1975) hätten wir heute kein demokratisch vereintes Europa.
1984 bis 1994 ist Bahr Direktor des Friedensforschungsinstitutes in Hamburg. Geradezu faszinierend, wie er dank eines umfassenden Faktenwissens stets zu einem konsistenten Urteil kommt, wie er Begründungszusammenhänge und Perspektiven aufzuweisen vermag. Und weiß, dass Politik ohne diplomatische Vertraulichkeit kaum weiterkommt. Freilich muss dahinter ein Konzept stehen.
In einer Rede in Dresden bezeichnet er 1992 Aussöhnung als Schlüssel der Einheit, einschließlich einer Amnestie für teilungsbedingte Delikte und plädiert für einen gesamtdeutschen Dialog, um sich über 60 Jahre deutscher Geschichte zu verständigen - also von 1930 bis 1990. Gnade solle vor Recht ergehen, damit das Prinzip Versöhnung vor Recht gelten könne, verlangt Bahr, der keinen Zweifel hegt, wie schwer die Aussöhnung fällt, aber "kein Volk kann gesunden - und das ist ja Aussöhnung ohne Vergessen - mit dem andauernden Benennen und Aufrechnen von Schuld. Es gibt Unverzeihliches."
Er warnt davor, die Chance zu verspielen, es jetzt - miteinander - besser zu machen, im Sinne eines gemeinsamen, befreiteren Zusammenlebens.
Was charakterisiert Egon Bahr? Scharfblick ohne Schärfe. Die Wahrheit sagen können, ohne zu verletzen. Auf den Gegner eingehen, ohne vor ihm einzuknicken. Eigene Interessen vertreten und fremde respektieren können. Sich keine Illusionen machen, aber nicht die Hoffnung aufgeben. Auf seinen Zielen beharren, aber nicht auf seinen Prinzipien herumreiten. Den Gegner gewinnen, aber nicht über ihn triumphieren. Bedrückende Realitäten sehen, aber nie zynisch werden. Nicht gemein sein - und sich nicht gemein machen. Beharrlich daran festhalten, dass das, was ist, nicht bleiben muss, wie es ist. Wenn man nicht gehört wird, keine Kassandra-Lust entwickeln, letztlich "Recht gehabt zu haben". Selbstbewusste Bescheidenheit, gedankliche und sprachliche Klarheit, geerdete politische Visionen! Das alles ist ein "deutscher Weg", vor dem niemandem bange werden muss.
Das (erfolgreiche!) politische Konzept Gemeinsame Sicherheit bleibt ein Vermächtnis für das 21. Jahrhundert. Unermüdlich - auch ohne ein Amt - mischt sich Egon Bahr weiter ein und formuliert seine Vorbehalte gegen die neuen Kriege - vom Kosovo bis zum Irak. Er verkörpert bis heute das Erbe des Friedensnobelpreisträgers Willy Brandt und hat seinen Anteil an jenem Preis.
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