Weizsäcker oder der Weg zur Einheit

Nachruf Ein "DDR-Versteher", der nicht belehrte, sondern für gemeinsame Verantwortung plädierte: gegen Krieg und gegen Armut. Wer seine Reden liest, spürt, wie sehr er fehlt
Richard von Weizsäcker 1984
Richard von Weizsäcker 1984

Foto: Imago/teutopress

Der Osten hat anders gewichtete Erinnerung an diesen Ausnahmepräsidenten als der Westen des vereinigte-geteilten Deutschland. Ich erinnere mich der Tränen der Anrührung, als er am 25. September 1983 auf dem Wittenberger Marktplatz vor vielen tausend Menschen deutlich machte, wie wir trotz der Teilung im Innersten zusammengehören und hüben und drüben Deutsche sind und daß wir unsere Wege nicht nur in voller Unabhängigkeit gehen würden, sondern auch in der "besonderen

Gemeinschaft der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland".

Er sprach von der partnerschaftlichen Freiheit, die uns in Mitverantwortung bringe und gab der deutschen Einheit eine Perspektive, die 1989 hätte beherzigt werden sollen. Weizsäcker wörtlich: "Wir leben hüben und drüben unter verschiedenen Bedingungen, gesellschaftlichen Systemen und persönlichen Spielräumen. Wir respektieren dies gegenseitig selbstverständlich so, daß keiner dem anderen einen unangemessenen Rat geben will. Aber wir sind hüben und drüben Deutsche, wenn auch in zwei Staaten. Uns verbindet mehr als Sprache, Kultur und die Haftung für unsere Geschichte." So hatte seit 1954 kein Westdeutscher mehr auf dem Territorium der DDR zu uns östlich Abgeteilten geredet. Mit respektvoller Nähe hatte er an gemeinsame Aufgaben erinnert: Daß nämlich die verschmutze Luft an den Grenzen nicht Halt macht und es gemeinsames Anliege sei, sie rein zu halten. Der Frieden sei nicht teilbar zwischen Ost und West. Armut und Hunger zu lindern war und bleibe gemeinsame Verantwortung. Und diese Größe hatte er immer. Er dankte ausdrücklich "allen, die uns die Teilnahme möglich gemacht haben". Und er bekannte von sich, daß er weit mehr empfangen als mitgebracht habe.

"Unser Präsident"

Die deutsche Einheit war und blieb ihm ein Herzensanliegen. Er wischte die Unterschiede nicht weg, die sich in 40 Jahren Teilung ergeben hatten.

Mit solchen Worten schrieb er sich in die Herzen der Ostler ein - und war somit bereits „unser Präsident“ – wiewohl er formell noch Regierender Bürgermeister gewesen war.

Ich hatte ihm am Abend zuvor bei einem Empfang in geschlossener Gesellschaft einige Bitten unseres Friedenskreises mit auf den Weg geben können. Er hielt sich an kein Protokoll, machte sich nicht an dem reich gedeckten Tisch zu schaffen, sondern wandte sich mir ganz zu: verstehend, zustimmend, widersprechend. Es ging um die Mittelstreckenraketen des Ostens und des Westens. Konzentriert zuzuhören war ebenso seine Begabung wie die herausragende Fähigkeit, zusammenfassend das Gemeinsame zu formulieren und auf das zu verweisen, welche Verantwortung jeder an seiner Stelle bzw. und in seiner Position zu übernehmen habe. Wir DDR-Deutschen spürten bei ihm in besonderer Weise, daß er sich auf uns einstellte, uns verstand, uns nicht belehren, uns nicht be- oder gar aburteilen wollte. Beim Ringen um den Frieden sollten wir uns nicht zersplittern in Träumer und Realisten, vielmehr Nüchternheit und Aufrichtigkeit walten lassen, die unterschiedlichen Spielräume beachtend, mahnte er wieder und wieder.

Selbst meine damals 15jährige Tochter ließ sich 1985 ansprechen durch seine große Rede, selber annehmend die bleibende Mitverantwortung für das, was Deutsche in jenen dreizehn Schreckensjahren angerichtet hatten. Nicht von ungefähr studierte sie nach dem Mauerfall Polonistik.

Die Frage nach den Deutschen und ihrer Identität hat ihn in vielen, vielen Varianten beschäftigt, nicht zuletzt im Aufgreifen all dessen was eine deutsche Kultur bedeutet, die sich der Welt öffnet. Wer kann heute noch ermessen was er 1985 beim Kirchentag in Düsseldorf sagte: „Waren Sie schon einmal in der DDR? Jeder, der sich hier bei uns öffentlich äußert, sollte stets darüber Rechenschaft ablegen, ob er mit dem, was er sagt, vor den Deutschen in der DDR bestehen kann… Man hört drüben sehr genau hin, was bei uns alles gesprochen wird, manchmal genauer als bei uns selbst… Die Menschen in der DDR sind nicht nur Bürger ihres Staates, sondern sie sind zugleich auch Deutsche, Deutsche wie wir.“

Und er wollte stets die Teilung Deutschlands beendet wissen, was stets voraussetzen würde, daß „die Teilung Europas überwunden werden kann“.

Alles nur kein Volkstribun

Wie Genscher und Brandt war er ein „DDR-Versteher“, der sich nie mit der Mauer am Brandenburger Tor abfinden und stets der Verständigung das Wort reden wollte.

Ich habe Richard von Weizsäcker in vielen Gesprächsforen erlebt und sein Dabeisein war eine unausgesprochene Verpflichtung, jetzt sehr konzentriert zu sein, sehr genau aufeinander zu hören, sehr gut die Worte zu wägen bis sie stimmten. Ihm wurde das vielfach entgegengebracht, was mit dem schönen deutschen Wort „Hoch-Achtung“ ausgedrückt wird.

Er nötigte einem immer Respekt ab. Er war ganz und gar kein Volkstribun, aber über die politischen Lager hinaus beliebt und wurde auf eigenartige Weise geliebt.

Richard von Weizsäcker hat bewiesen, daß man populär sein kann, ohne sich gemein zu machen, daß man Nähe zeigen kann, auch wenn man Distanz hält, wie man bei aller Loyalität gegenüber seinen politischen Freunden seinen eigenen Kopf behalten und sich die „Tapferkeit vor dem Freund“ bewahren kann. Er hat sehr gut verstehen können, daß der grundlegende politische Umbruch nach der Friedlichen Revolution den Ostdeutschen einiges zugemutet hat, daß ein selbstgerechtes Darüberhinwegfahren und Verurteilen weder der inneren Einheit nützt, noch einer differenzierter zu sehenden Wirklichkeit entspricht. Sehr früh riet er zu einem sachlichen Verhältnis zur PDS, ohne je zu verschweigen, welche Selbstauseinandersetzung diese Partei wegen ihrer Herkunft noch zu leisten habe. Er hat am 3. Oktober 1990 darauf bestanden, daß die Teilhabe auch teilen bedeutet und jede Selbstgerechtigkeit fehl am Platze ist. Als ich 1991 im Tagesspiegel für ein Tribunal der politischen Selbstauseinandersetzung plädiert hatte, statt den Weg der juristischen Be- und Aburteilung der DDR samt deren früheren Akteure zu gehen, rief er mich prompt in Wittenberg an. Ich war völlig durcheinander: der Bundespräsident liest in der Zeitung einen Beitrag und ruft den Autor aus der Provinz an! Wir verabredeten eine Zusammenkunft in seinem Amtssitz, verständigten uns über einen Kreis von etwa 10 Personen aus Ost und West und trafen uns sehr bald im Schloss Bellevue. Die Diskussion verlief intensiv, impulsiv, kontrovers – um nicht zu sagen durcheinander. Der Präsident hörte lang und geduldig zu, verstand alles auf eine verblüffende Weise zusammenzufassen. Im „Forum für Aufklärung und Erneuerung“ war daraufhin versucht worden, parallel zu dem, was in Südafrika diskutiert wurde, auch in Deutschland zu verfahren. Das strafrechtlich Relevante sollte auch strafrechtlich verfolgt werden – also überall dort, wo individuell zurechenbare Schuld vorlag. Und ansonsten sollte es um eine politische Auseinandersetzung gehen – mit dem Ziel „Versöhnung in der Wahrheit“ zu erreichen.

Keine "Schwamm-drüber-Strategie"

Der anhaltende Frust vieler Ostbürger im vereinten Deutschland im Jahre 2015 ist auch ein Reflex auf Verwundungen, die von einem Prozess der Vereinigung herrühren, dereiner Vereinnahmung gleichkam, verbunden mit dem demütigenden Gefühl vieler Ostdeutscher, ihr Lebensweg und ihre Lebensleistung würden eher abgewertet denn gewürdigt. Weizsäcker gehörte zu denen, die Ostdeutschen zum Selbstbewusstsein ermutigten, ohne den Mauerstaat mit einer „Schwamm-drüber-Strategie“ vergessen zu machen. Wir haben einen großen Menschen verloren, der vorgelebt hat, was es heißt Stil zu haben und dem Adel des Geistes auf eine nichtelitäre Weise richtungsweisend Stimme zu geben.

Nach seinem Amtsabschied 1994 schrieb er mir, daß dies doch kein Abschied sei: „Wir werden jeden Tag neue Gelegenheit haben, aufzupassen, weiterzudenken und mit verteilten Rollen in derselben Richtung weiterzugehen. An guten Gelegenheiten, sich wieder untereinander auszutauschen, wird es nicht fehlen.“

Wer seine Reden liest, spürt, wie sehr er uns jetzt fehlt und wie präsent er bleibt mit allem, was er uns hinterlassen hat. Noch lange wird er „unser Präsident“ sein!

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