Voll stolzer Erinnerungsseligkeit feierte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) im vergangen Herbst sein 50-jähriges Bestehen. Wohlan, führen wir den Rückblick fort und schauen, was vor 50 Jahren zum Mai-Feiertag - groß hervorgehoben - in der Funktionärszeitschrift Die Quelle stand: "Der geniale Hauptgedanke des Maifestes, das ist das eigene unmittelbare Auftreten der proletarischen Massen, das ist die politische Massenaktion der Millionen Arbeitenden, die sonst im parlamentarischen Alltag, getrennt durch staatliche Schranken, meist nur durch den Stimmzettel, durch Wahlen ihrer Vertreter, dem eigenen Willen Ausdruck verleihen können". Das war, ohne jede Distanzierung und Relativierung, eine Lobrede Rosa Luxemburgs auf den "Kampftag der Arbeiterklasse", wie ihn
Die gescheiterte Hoffnung
1. MAI 2000 Aus dem "Kampftag der Arbeiterklasse" ist ein "Tag der Image-Kampagne" geworden
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e", wie ihn auch später noch eine Reihe Gewerkschafter nicht nur im östlichen Teil Deutschlands nannten. Und was ist heute aus diesem Tag geworden, was aus seiner Einordnung in eine politische Strategie des "Bundes der Gewerkschaften" - wie sich der DGB zum Auftakt einer am 1. Mai 2000 beginnenden Kampagne und auch fortan nennen will?"Einbußen" sind hinzunehmen, heißt es im Mai-Aufruf, "damit mehr junge Menschen einen Arbeitsplatz finden". Nur sollen die Einbußen nicht so groß sein (jedenfalls vorerst?) und auch nicht für alle gelten, sondern erst einmal für Rentner, wie der DGB sein Plädoyer für Verzicht konkretisiert. Und weiter: "Mehr" junge Menschen sollen bezahlte Arbeit bekommen - von "allen" ist längst nicht mehr die Rede. Vor 50 Jahren hatte der Mai-Aufruf noch "Vollbeschäftigung" gefordert und die Schuld am "Elend unserer Flüchtlinge und Arbeitslosen" allein bei jenen "kapitalistischen Kräften" gesehen, die "uns" - dem DGB in der Bundesrepublik Deutschland (nicht der DDR!) - die herrschende Wirtschaftsordnung "aufzwangen".Wer wissen möchte, was dagegen die Gewerkschaftsoberen unserer Zeit wirklich bewegt, braucht sich nur das diesjährige Plakat zum "Tag der Arbeit" anzuschauen: "Die Eisdecke ist geborsten, ihre Stücke haben sich übereinandergeschoben. Das Eis ist zu einem großen Grabmal aufgetürmt, dessen Zacken zum Himmel weisen. Der Eindruck der Eismassen ist so erhaben wie unnahbar. Wer sich in diese Zone vorwagt, wer hier eindringt, muss zugrunde gehen. Dies ist keine Region des Menschen" - so eine Bildbeschreibung des Kunsthistorikers Wieland Schmied. Und trifft sie auch auf das in blau gehaltene Motiv des diesjährigen DGB-Plakats vollständig zu, so hat Schmied seine Darstellung doch an einem anderen Bild entwickelt, an Caspar David Friedrichs "Die gescheiterte Hoffnung". So verrät der DGB ikonografisch, wo er heute angekommen ist.Nicht nur Hoffnungen, die inzwischen, wenn auch meistens uneingestanden, scheiterten, setzte der DGB in die Wahl der jetzigen Regierungsparteien. Acht Millionen Mark Mitgliedsbeiträge investierte er 1998 in seine Kampagne für "Arbeit und soziale Gerechtigkeit". Aber was macht der DGB jetzt mit seinen Hoffnungen, mit seiner Investition? Statt wie unter der vorigen Regierung weiterhin Objekt antigewerkschaftlicher Ressentiments zu sein, hat er sich nun selbst in eine Art Duldungsstarre versetzt. Im Rahmen des "Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit" wird alles gegengezeichnet, was Kanzler und Kapital das weitere Regieren bequem macht."Die Arbeit umverteilen" ist zwar im Mai-Aufruf wie in den Redebausteinen für DGB-Funktionäre eine zentrale Forderung. Doch deren praktische Umsetzung haben die Gewerkschaften der wichtigsten Wirtschaftsbranchen (Metall, Chemie) in der gerade beendeten Tarifrunde zunichte gemacht. Nur mit einer kaum zu erwartenden Kraftanstrengung könnten die Gewerkschaften der Dienstleistungsbranche (ÖTV, DAG, DPG, HBV und IG Medien) bestenfalls noch marginale Veränderungen durchsetzen.Ebenso ist die Forderung des DGB, die Massenkaufkraft zu stärken, offensichtlich ad acta gelegt. Die Lohn- und Gehaltssteigerungen, die in den vergangenen Wochen vereinbart wurden, sind wenig mehr als ein Inflationsausgleich. Schlimmer noch: Die einflussreichsten Gewerkschaften haben ihr Stillhalten bis zum Frühjahr 2002 ratifiziert, also bis zum Beginn der Vorwahlzeit für die nächsten Bundestagswahlen. Abzusehen ist, dass die Gewerkschaften dann erst recht die Bundesregierung schonen werden, um sie im Amt zu halten. Faktisch haben sich die Gewerkschaften damit als Kristallisationspunkt gesellschaftlicher, auch außerparlamentarischer Auseinandersetzungen verabschiedet.Verheerend ist vor allem die Festschreibung der wöchentlichen Arbeitszeit bis zum Jahre 2003. Denn "Arbeitszeitverkürzung ist eine wichtige Grundlage, um die bezahlte und unbezahlte Arbeit gleichberechtigt zwischen Männern und Frauen zu teilen" - das haben die DGB-Ghostwriter ihren Funktionären und Funktionärinnen in die Redebausteine zum 1. Mai schreiben lassen (die ansonsten 20 Seiten lang eine Ansammlung von Gemeinplätzen ohne jeden rhetorischen Pfiff sind). Doch die Praxis der Tarifverträge sieht eben anders aus. Es bleibt bei der bisherigen Verteilung der Arbeit zwischen den Geschlechtern. Familie und Erwerbsarbeit lassen sich auch künftig nicht einfacher miteinander vereinbaren. Stillstand also für die Politik der Geschlechterdemokratie: Männer bleiben Ernährer, Frauen bleibt die Hausarbeit. So haben die Gewerkschaften selbst dafür gesorgt, dass ihre Mai-Forderung praktisch ins Leere geht.Aber wollen sie überhaupt noch etwas anderes? Sehenden Auges haben sie sich auf eine Politik sozialer Pakte eingelassen, obwohl doch die "Meisterdenker" im Umkreis des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung um Professor Wolfgang Streeck, die in Deutschland dieses Konzept für das Kanzleramt entwickelten, die Gewerkschaften ausdrücklich als "potentielle Verlierer" eben dieser Politik gekennzeichnet haben. Nach der Metall-Tarifrunde bilanzierte die deutsche Financial Times unter der Überschrift "Zwickel verliert, aber das Bündnis gewinnt" das Ergebnis: "Der überraschend moderate Tarifabschluss folgt genau den Vorgaben des Bündnisses für Arbeit". Und der oberste deutsche Arbeitgeberfunktionär Dieter Hundt ergänzt: "Das Bündnis erfüllt damit für die Tarifrunde 2000 eine wichtige Leitfunktion." Selbstkritisch resümiert Hans-Jürgen Urban, Leiter der Abteilung für Sozialpolitik im IG Metall-Vorstand den zweifelhaften Erfolg dieser Tarifrunde in einem internen Papier: "Die tarifpolitischen Vorgaben aus dem ÂBündnis - Verwendung des Produktivitätsfortschritts vorwiegend zum Beschäftigungsaufbau - werden aber nicht im gewerkschaftlichen Sinne in Form von Arbeitszeitverkürzungen und nachfragesichernder Tarifpolitik, sondern als Vereinbarung zum Lohnverzicht interpretiert."In einigen prosperierenden Großbetrieben murren schon die Gewerkschaftsmitglieder. Doch gegen enttäuschte Hoffnungen haben Streeck und sein Team schon die Empfehlung entwickelt, "dass die Gewerkschaften die Interessen ihrer Mitgliedschaft neu definieren, um eine kurzfristige bedürfnisorientierte Interessenpolitik in eine langfristige organisationsorientierte Interessenpolitik zu übertragen." Kurz: Sie müssen "im Interesse ihrer Kompromissfähigkeit in politischen Verhandlungen von den unmittelbaren Mitgliederinteressen an Lohnzuwächsen und sozialer Sicherheit abstrahieren." Folgen die Gewerkschaften dieser Empfehlung, gewährt ihnen die Bundesregierung Entlastungen, beispielsweise in der Steuerpolitik. Diese kann der DGB dann als "Erfolg" verkaufen. Können die Gewerkschaften auch damit ihre Mitglieder nicht halten, so macht das nichts, denn ihre Funktionsträger können doch eine Perspektive - zumindest für sich selbst - in den Runden und zahlreichen Arbeitsgruppen des "Bündnisses für Arbeit" entwickeln.Von dem Anliegen, die praktische Alltagssituation der abhängig Beschäftigten verbessern zu wollen, haben sich die Gewerkschaften offenbar verabschiedet. Um so konsequenter die Schlussfolgerung, wenigstens "gut zu erscheinen". So jedenfalls begründete DGB-Vorsitzender Dieter Schulte - der seine Organisation allerdings auch für gut hält - eine "Imagekampagne", für die der DGB bis zu zehn Millionen Mark ausgeben will und die just an diesem 1. Mai beginnen wird."Anzeigen in Publikumszeitschriften, Großflächenplakatierung, Kinospots" sollen ein "positives Image" befördern. Dazu kommen - neben dem Internet-Auftritt unter www.dgb2000.de - noch eine "Hotline" (0180 - 2340000) und selbstverständlich diverse "Events". Schließlich die Krönung der Geschichte: "Der gewerkschaftliche Auftritt auf der Expo 2000 in Hannover", den sich der DGB nochmals zehn Millionen Mark kosten lässt, um Freund Schröder einen peinlichen Flop zu ersparen. Denn Schröder hatte als niedersächsischer Ministerpräsident - schon damals mit DGB-Unterstützung - die Ausstellung nach Hannover geholt. So setzen jetzt die Gewerkschaften neben viel Geld auch zusätzlich Personal ein, um ihre Mitglieder nach Hannover zu bringen (bundesweit will der DGB-Vorstand dagegen 60 Stellen streichen - fast ein Viertel der insgesamt 264 Arbeitsplätze in den Landesbezirken). Trotzig lobt Schulte immer noch die Expo als "sehr starke Möglichkeit", um "vor allem ein junges Publikum ansprechen" zu können. Statt politisch die Interessen der Mitglieder zu vertreten, stellt der DGB den Erhalt der eigenen Organisation in den Mittelpunkt seines Handelns.Dazu passt die Image-Kampagne, wenn der DGB meint, mit ineinander geschobenen Eisschollen für sich werben zu können: "Jetzt aufbrechen: Für mehr Beschäftigung." Wieland Schmied sieht in Caspar David Friedrichs Gemälde einen "Doppelcharakter von Scheitern und Hoffnung". Was werden die abhängig Beschäftigten sehen, wenn sie zu den Kundgebungen und Demonstrationen des DGB marschieren? Bleibt neben dem Scheitern noch Hoffnung?
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