Konstruieren wir ein Beispiel, durchaus an die Wirklichkeit angelehnt, wie die Bremer Medienrazzia vor drei Jahren gezeigt hat: Eine Staatsanwaltschaft lässt eine Redaktion durchsuchen. Die Medien sind empört, ihre Gewerkschaftsgliederung will in einer öffentlichen Erklärung den Übergriff verurteilen. Jetzt die Konstruktion: Das erbost die gewerkschaftlich organisierten Staatsanwälte, ihre ordnungs- und ge setzes wahrende Arbeit - so sehen sie es - wird öffentlich angegriffen. Gegenwärtig gehören beide Gruppen in unterschiedliche Gewerkschaften: einmal in die IG Medien, zum anderen in die ÖTV. Würde es was mit ver.di, der neuen Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft, wären sie in einer Organisation - einschließlich DAG, HBV und DPG.
Schon bei der Ouvertüre von ver.di stritten sich die fünf beteiligten Gewerkschaften darüber, wer in dem konstruierten Beispiel das Recht haben soll, öffentlich zu protestieren. Abstrakt gefragt: Sollen die Fachbereiche autonom handeln können oder sollen sie Teil der territorialen Ebenen - Bezirk, Landesbezirk, Bund sein? Das ist die Grundsatzfrage, an der sich Ende vergangener Woche die fünf ver.di-Gewerkschaften entzweit haben, nachdem sich die Vorstandsleute zuvor eigentlich schon einig waren. In der einvernehmlich beschriebenen Satzung von ver.di, "Eckpunkte" genannt, ist nun Autonomie festgelegt.
Vier Gewerkschaftstage haben sie mit Mehrheiten von jeweils über 90 Prozent Zustimmung gebilligt (die Postgewerkschaft gar einstimmig); nur die ÖTV scherte aus - zur Überraschung auch des eigenen geschäftsführenden Vorstandes. "In der ÖTV ist in den letzten Monaten der Eindruck entstanden, die ÖTV würde in diesem Prozess zu sehr nachgeben, ihre Grundüberzeugungen und auch ihre Erfahrung, wie man eine Großorganisation aufstellt, würden zu wenig berücksichtigt", fasst der bayerische Landesvorsitzende Michael Wendl den Kern des Misstrauens der Delegiertenbasis weitgehend zusammen.
Dabei hatte schon kurz vor den Gewerkschaftskongressen Karin Froschek-Voigt, Beraterin für Entwicklungsprozesse von Organisationen und bei der ÖTV wissenschaftliche Ratgeberin im Hintergrund, kritisch angemerkt, dass im Neustrukturierungsprozess der Gewerkschaften "Misstrauen" ein Tabu thema sei: "Man ist, wie in Gewerkschaften üblich, den Weg zum kleinsten gemeinsamen Nenner gegangen und nicht den Weg einer intensiven Auseinandersetzung über unterschiedliche Standpunkte, um daraus eine gemeinsame politische Plattform zu entwickeln." Im Vorfeld des Zusammenschlusses habe keine vertrauensvolle Zusammenarbeit stattgefunden. Die Untersuchung von Fusionsprozessen - und vor allem der Gründe des Scheiterns - habe ergeben, dass Menschen "mit ihren Gefühlen, Bedürfnissen und ihren Vorstellungen eingebunden" werden müssten, damit "sie sich an einem gemeinsamen Bild orientieren oder es entwickeln" könnten. Doch offenkundig hat der ÖTV-Vorstand diese Hinweise nicht ernst genommen, so dass Froschek-Voigt schon vor dem Dortmunder Kongress feststellte: "Im Moment scheint es mir sehr darum zu gehen, so viel wie möglich von der alten Gewerkschaft in die neue Organisation zu retten." Eine Art Schachspiel, in dem schon das Besetzen bestimmter Felder ein Erfolg ist.
So konnte der entscheidende Zug der Dortmunder Kongressabgesandten nicht mehr völlig überraschen. Einseitig veränderte eine große Mehrheit die Eckpunkte und legte fest, dass die Fachbereiche doch jeweils Teil der Ebenen sein sollen, womit sie weder das Recht hätten, über eigene öffentliche Stellung nahmen oder über eigene Gelder zu entscheiden, noch Schwerpunkte der Arbeit hauptamtlicher Gewerkschaftssekretäre und -sekretärinnen festzulegen. Der Zuschnitt der untersten Ebene würde dieses Problem noch verschärfen: Auf Grund der regional jeweils unterschiedlichen Verteilung von Mitgliedern würde eine größere Zahl von Bezirken durch ehemalige ÖTV-Mitglieder majorisiert. Nach Angaben des bayerischen ÖTV-Vorsitzenden wäre in mehr als der Hälfte der künftigen ver.di-Bezirke dann die ÖTV stärkste Ex-Teilgewerkschaft.
Jetzt gibt es zwischen den fünf Gewerkschaften eine 4:1-Mehrheit gegen die ÖTV. Diese Konstellation gab es in einigen der Arbeitsgruppen, die die Fusion vorbereiten, schon häufiger, zum Beispiel in Fragen der künftigen Gestaltung der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, in der Technologiepolitik oder der Vorbereitung einer Programmkonferenz. Doch dieses Mal geht es um die Grundsätze von ver.di. Die vier anderen Gewerkschaften sind vom ÖTV-Beschluss ähnlich überrascht wie deren eigener Vorstand. Noch überwiegen bei den anderen die Versuche, die ÖTV-Entscheidung zu entdramatisieren. Doch unter der Hand verlautet schon aus den Vorständen vor allem von HBV und IG Medien, dass "ernsthafte Probleme" aufgetaucht seien; falls die ÖTV darauf beharre, dass die Fachbereiche nicht autonom agieren könnten, "ist ver.di am Ende".
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