In Berlin wird ab Montag der Gründungskongress der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di stattfinden. Mit der ver.di-Gründung wollen die Gewerkschaften ihre Reformfähigkeit beweisen. "Geänderte Arbeitsbedingungen, neue Berufe, gewandeltes berufliches Selbstverständnis, sozialer Wandel, müssen in der Arbeit und im Aufbau der Gewerkschaften ihren Niederschlag finden," fasste die IG Medien die wichtigsten Gründe für eine Reform zusammen. Doch seit einer ersten gemeinsamen Erklärung der fünf beteiligten Gewerkschaften vor drei Jahren werden diese Gründe in immer neuen Abwandlungen vorgetragen.
Alles ist im Wandel: Arbeitsbedingungen, Berufsbilder, berufliches Selbstverständnis. Davor können sich auch die Gewerkschaften nich
die Gewerkschaften nicht verschließen. Da braucht es auch zusätzliche Formen kollektiver Gegenwehr. Schließlich nimmt mit der Auflösung von Branchen- und Betriebsgrenzen auch die Konkurrenz zwischen den Gewerkschaften zu. Notwendige, wenngleich noch nicht ausreichende Antwort auf alle diese Herausforderungen soll die Gründung von ver.di sein, so die IG Medien.Doch für welche Reformen steht ver.di? Welche Ziele soll die neue Gewerkschaft ansteuern, die mit knapp drei Millionen mehr Mitglieder als jede andere Gewerkschaft auf diesem Globus haben wird? Die Antworten sehen noch dünn aus. Die sechs Konferenzen der vergangenen zwei Jahre zu Themen wie Mitbestimmung, Arbeitszeit, Tarif- und Bildungspolitik gab noch keine Basis für ein gemeinsames Programm. Erst zum Bundeskongress 2003 will ver.di die Programmdebatte zusammenfassen, die die neue Gewerkschaft in Berlin mit einem Dutzend Anträgen weiterführen will. Genau die kritisiert der bayerische ÖTV-Vorsitzende Michael Wendl in der Zeitschrift Sozialismus als "breiten Forderungskatalog ohne roten Faden und vor allem ohne jeden analytischen Bezug". Sprächen auch pragmatische Gründe für einen Verzicht auf eine Analyse, so wirkten die Vorschläge doch nur wie "ein Minimalkonsens unterschiedlicher gewerkschaftspolitischer Strömungen".Zum Konsens gehört unter dem Schlagwort "gender mainstreaming" ein bestimmtes Verständnis von Frauenpolitik: "Frauen müssen in allen Organen (...) mindestens entsprechend ihrem Anteil an der jeweils repräsentierten Mitgliedschaft vertreten sein," heißt es in den Grundsätzen der vorbereiteten ver.di-Satzung. Obwohl auch die Vorläufer-Gewerkschaften allen verbalen Beschwörungen zum Trotz eine entsprechende Praxis vermissen lassen.Und schon jetzt ist bekannt, dass bei der Abstimmung über den ersten ver.di-Vorsitz ein Mann das Rennen machen wird: der ÖTV-Vorsitzende Frank Bsirske - der das Vorsitzenden-Amt bei der ÖTV noch kein halbes Jahr bekleidet - und nicht die seit sechs Jahren amtierende HBV-Vorsitzende Margret Mönig-Raane. Unter den vier ver.di-Vize-Vorsitzenden wird sie die einzige Frau sein. Auch für den 19-köpfigen ver.di-Bundesvorstand sind gerade sieben Frauen nominiert.Die FusionZu ver.di zusammenschließen wollen sich: die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV), die Deutsche Post-Gewerkschaft (DPG), die inzwischen kleinste DGB-Gewerkschaft IG Medien, Druck und Papier, Publizistik und Kunst sowie die außerhalb des DGB stehende Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG). Der erste Schritt zur Fusion war eine "Gemeinsamen Erklärung" dieser Gewerkschaften am 4. Oktober 1997, an den Beratungen dazu hatten allerdings noch drei weitere Gewerkschaften teilgenommen, die sich in der Folgezeit zurückgezogen haben: Bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) blockierte die weitgehende Autonomie der Landesverbände die weitere Mitarbeit, ein außerordentlicher Bundeskongress im Mai 1999 beschloss mit knapper Mehrheit, die GEW solle sich eigenständig zu einer Bildungsgewerkschaft weiter entwickeln. Die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands (GdED), die sich im vergangenen Mai in Transnet umbenannte, wollte lieber eine Kooperation der europäischen Eisenbahnergewerkschaften anstreben und zog sich deshalb im Februar 1998 zurück. Die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) war schon nicht mehr Mitunterzeichnerin der "Gemeinsamen Erklärung", da sie meint, eigenständig bleiben zu können, allerdings wollen Gerüchte nicht verstummen, die NGG strebte für die Zukunft einen Zusammenschluss mit der Gewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (BCE) an.Unter den programmatischen Anträgen ist - selbstverständlich - auch einer zur internationalen Solidarität zu finden. Aber wie ernst ist er gemeint? Praktisch sind Gewerkschaften auf den eigenen nationalen Standort fixiert und beteiligen sich an einer Politik mit "der Tendenz, das eigene Fell auf Kosten anderer zu retten," wie Detlef Hensche auf den Standortnationalismus des "Bündnisses für Wettbewerbsfähigkeit" kritisierte. Unverdrossen würden dabei "die wilhelminischen Muster der Wirtschaftspolitik fortgesetzt" in der aberwitzigen Hoffnung, "durch Niederkonkurrieren des Gegners eigene dauerhafte Vorteile zu erringen".Gerade die Organisationen in Deutschland, die Solidarität als zentrales Ziel ihres Handelns sehen, haben praktisch keine Eine-Welt-Politik entwickelt. Der Antrag zur "internationalen Solidarität" setzt sich zwar mit der EU und deren Osterweiterung auseinander, fordert ansonsten aber nur deklaratorisch eine "koordinierte Wirtschaftspolitik" für eine "gerechtere" - nicht: gerechte - "Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums in" - nicht: zwischen - "den Ländern des Nordens und des Südens". Natürlich wird auch die Veränderung internationaler Organisationen wie Weltbank, Währungsfonds, Arbeits- und Welthandelsorganisation fordert, aber Proteste wie in Seattle, Prag, Davos sind für ver.di bislang kein Thema.Die am stärksten ausgebeuteten Menschen tauchen in der Gewerkschaftspolitik weder als Subjekte noch als Klientel auf - weder international noch im eigenen Lande. Mehr noch: In der gewerkschaftlichen Praxis wird auch die wirtschaftliche Schutzbedürftigkeit von Menschen ausgespart, die nicht in traditionellen Verhältnissen mit Arbeitsvertrag und Lohnkonto stecken, so zum Beispiel Tagelöhner oder durchs Asylrecht in illegale Arbeitsverhältnisse gedrückte Flüchtlinge oder faktische Zwangsarbeiter in bundesdeutschen Gefängnissen. Blinde Flecken in der Wahrnehmung auch beim Thema Kinderarbeit - nicht im Süden, sondern bei uns: Nach einer Studie der Bundesländer arbeiten etwa 600.000 Kinder in Deutschland.Den Wandel der Arbeitswelt nehmen die Gewerkschaften vor allem unter den Stichworten "New Economy - Informations- und Wissensgesellschaft" wahr, so wie sie auch in ihrem gemeinsamen "Verschmelzungsbericht" zum Berliner Kongress eine Begründung für die ver.di-Gründung aus der Entwicklung der Wirtschaft ableiten. Doch selbst in Zeiten jäher Kursstürze von Firmen der Internet-Ökonomie kümmert sich gerade vielleicht ein halbes Dutzend der insgesamt rund 5.000 ver.di-Beschäftigten um die "netslaves", wie Bill Lessard und Steve Baldwin die Computersklaven in ihrem gleichnamigen Buch mit "Reportagen aus der Ausbeuterfirma Internet" nannten. Denn die Gewerkschaftssekretäre in den Bezirksbüros und den Kreisgeschäftsstellen sind in der Praxis immer noch auf das "Normalarbeitsverhältnis" fixiert - ungeachtet von ver.di-Programmsätzen und der Reden von ver.di-Funktionären. Rahmen gewerkschaftlicher Interessenvertretung bleibt das vorgegebene rechtliche und institutionelle System - darüber hinaus weist kaum mehr etwas.Die wirtschaftlich am stärksten abhängigen Menschen sind in der Gewerkschaftspraxis am Rande zu finden; kritische Diskussionen der ver.di-Gewerkschaften über den Niedriglohn-Sektor in Deutschland sind die Ausnahmen. Das geht mit einem Defizit einher, das Gewerkschaften zwar zum Teil wahrgenommen, aber bislang kaum diskutiert haben: der Verlust eines politischen Ansprechpartners, nachdem sich die SPD "von der Tradition der Arbeiterbewegung" verabschiedet hat, wie Bodo Zeuner schon vor knapp zwei Jahren - und vor Steuer- und Rentenreform - auf einer Veranstaltung der IG Metall analysiert hat. Die Bündnisgrünen - deren Mitglied Frank Bsirske ist - werden die Rolle der SPD keineswegs übernehmen können: Sie haben die Regierungspraxis mitgetragen und versuchen bei der betrieblichen Mitbestimmung, auf noch größere Distanz zu gewerkschaftlichen Positionen zu gehen.Die OrganisationDie Mitglieder der bisherigen fünf Gewerkschaften werden mit der Gründung 13 Fachbereichen zugeordnet. Der ver.di-Bundesvorstand setzt sich dann aus den Fachbereichsleitern, dem Vorsitzenden und seinen vier Stellvertretern zusammen. Als Vorsitzender designiert ist der heutige ÖTV-Vorsitzende Frank Bsirske, als Vize sind vorgesehen: Margret Mönig-Raane (HBV; zuständig u.a. für die tarifpolitische Grundsatzabteilung, Wirtschafts- und Gleichstellungspolitik), Gerd Herzberg (DAG; Finanzen, Organisationsentwicklung, Mitgliederservice und -verwaltung), Michael Sommer (DPG; Mitbestimmung, Betriebs- und Personalräte, Vertrauensleute, Senioren) und Gerd Nies (IG Medien; Rechtsschutz, Justitiariat, Rechtspolitik, Erwerbslose). Insgesamt wird ver.di 2.891.297 Mitglieder haben (Stand: Januar 2001).Der bayerische ÖTV-Vorsitzende Wendl sieht bei der Mitbestimmung schon "die nächste politische Pleite" auf die Gewerkschaften zukommen. Deren Schwäche sei aber nicht allein Folge der Massenarbeitslosigkeit, sondern werde verstärkt durch "die anhaltende politische Subalternität großer Teile der Gewerkschaftsführungen". Die ist alle Monate wieder zu besichtigen in den Runden des "Bündnisses für Arbeit". Zwar haben Gewerkschaftstage der IG Medien wie der HBV mit großer Mehrheit einen Ausstieg der Organisation aus dem "Bündnis für Arbeit" gefordert. Doch ob ver.di diese Position übernehmen wird, ist fraglich: Nur über einen Initiativantrag des ÖTV-Landesbezirks Nordrhein-Westfalen wird das "Bündnis" überhaupt Thema in Berlin.ver.di gibt sich schon im Namen modisch wie ein Dot.com-Unternehmen, dabei hat der größte Teil der Gewerkschaftsfunktionäre die Probleme, vor denen sie heute stehen, nicht einmal verstanden. Sie beschäftigen sich nicht mit der Veränderung von Inhalten und Strategien, sondern treiben das Spiel von Organisationsveränderungen voran, wie auch der DGB zeigt. Der Bundesvorstand hat beschlossen, die Landesbezirke zu neun (Groß-)Bezirken und die 139 DGB-Kreise zu 94 Regionen zusammenzulegen; von diesen werden mehr als drei Viertel größer als das Saarland sein.Organisationsfusionen sind das einzige, was Funktionären als Reaktion auf die weiter anhaltenden Mitgliederverluste einfällt; in den beiden vergangenen Jahren ging die Zahl beim DGB um jeweils 3,3 Prozent auf jetzt noch rund 7,77 Millionen Beitragszahler zurück; 1991 noch hatte der DGB 11,8 Millionen Mitglieder. Bei den Gründungsgewerkschaften von ver.di ist die Entwicklung ähnlich. Sie haben zusammen im vorigen Jahr 3,1 Prozent ihrer Mitglieder verloren. Halten die führenden Gewerkschafter weiterhin an ihrem Unverständnis für inhaltliche Reformen fest, werden sie die fallende Kurve nicht wieder zum Steigen bringen und in absehbarer Zeit zu einem Organisationsgrad wie in Großbritannien, den USA oder Frankreich kommen. Die inhaltliche Erneuerung der Gewerkschaften lässt auch nach der ver.di-Gründung weiter auf sich warten.
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