Schwarzer-Peter-Spiel

VEREINIGTE DIENSTLEISTUNGSGEWERKSCHAFT Bereits in der kommenden Woche könnte das ehrgeizige Projekt scheitern

Jetzt hat die ÖTV den Schwarzen Peter. Das Problem ist allerdings weniger die ÖTV, sondern das Spiel selbst. Denn eigentlich sprechen alle Beteiligten von einer ernsten Situation. Die Beteiligten - das sind: Die noch außerhalb des Deutschen Gewerkschaftsbundes stehende DAG (Deutsche Angestellten-Gewerkschaft), die DPG (Deutsche Post-Gewerkschaft), die HBV (Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen), die IG Medien und eben die ÖTV (Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr).

Die ernste Lage: Die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften sinken weiterhin (im vergangenen Jahr um 3,3 Prozent auf noch gut acht Millionen; Stand 1991: 11,8 Millionen). Beschäftigte schnell wachsender Wirtschaftsbereiche wie Information, Kommunikation, Medien - ganz allgemein: aus Dienstleistungsbranchen - sehen in Gewerkschaften zu häufig Organisationen vergangener Epochen mit den entsprechenden Arbeitsformen. Frauen und Jugendliche sind für Zusammenschlüsse, die Emanzipation (in jeder Hinsicht) auf ihre Fahnen geschrieben haben, beschämend unterrepräsentiert. Es muss also etwas passieren.

Es ist schon etwas passiert: Die ganz großen Gewerkschaften aus der Metall-, der Bau- und der Chemiebranche haben die kleineren aufgesogen - die Kürzel GTB, GHK, GGLF, IGBE, GL kennen fast nur noch deren ehemalige Mitglieder, die manchmal nostalgische Ecken in "ihren" neuen Gewerkschaften haben, aber dort so wenig eine "neue Heimat" gefunden haben wie die neuen Großorganisationen Anziehungskraft für neue Mitglieder entwickeln konnten. Also sollte etwas ganz Neues passieren: Fünf Gewerkschaften mit einer Geschichte, die zum Teil bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, wollten sich auflösen zugunsten einer neuen Organisation, der "Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Ver.di)".

Dieses Mal sollte es so wenig eine "aufnehmende" Gewerkschaft geben wie eine "aufgehende": Die fünf wollten etwas völlig Neues schaffen, den traditionellen "Einheitsfetischismus" (IG-Medien-Vorsitzender Detlef Hensche) hinter sich lassen, und sie einigten sich tatsächlich auf eine völlig neue Organisationsstruktur, Matrix genannt. Das sollte ein vielfältiges Geflecht von Organisationseinheiten in horizontaler (Bund, Landesbezirke, Bezirke) und vertikaler Gliederung (13 Branchengliederungen) sein: Stets örtlich nah und eng am beruflichen Alltag orientiert, in Aktion und Hinwendung zu Mitgliedern und (Noch-)Nicht-Mitgliedern immer auf der Höhe der Zeit.

Ein Papier über eine solche Gewerkschaft ganz neuen Typs billigten im November vergangenen Jahres außerordentliche Kongresse aller fünf Gewerkschaften, wenngleich schon damals bei der ÖTV nur mit vernehmbarem, allerdings danach auch wenig beachtetem Grummeln. Alsdann war der grundsätzliche Konsens in konkrete Regelungen umzusetzen. Dabei verhedderten sich die fünf allerdings ganz traditionell in Regeln und Bestimmungen, die auch für einen durchschnittlichen Verwaltungsjuristen nur zu verstehen sind, wenn er auf eine langjährige Laufbahn als Vollzeitgewerkschaftsfunktionär zurückblicken kann. Doch immerhin einigten sich die fünf auf drei umfangreiche Kompromisspapiere.

In einigen Regionen lief die Zusammenarbeit der noch getrennten Gewerkschaften an. Nur beim Verteilungsschlüssel für die Gewerkschaftsgelder kam es zu keiner Einigung. Und als Folge droht an diesem Einzelaspekt das ganze Projekt Ver.di zu scheitern, denn er könnte als Katalysator wirken, die Unzufriedenheit vor allem in der ÖTV, aber auch in einzelnen Gliederungen der vier anderen Gewerkschaften, zum finalen Ausbruch zu bringen. Am vergangenen Wochenende begann die Zuspitzung. Auf der Mitgliederversammlung der Gründungsorganisation enthielt sich die Delegation der ÖTV bei der Abstimmung über die künftige Finanzverteilung.

Diese Woche nun beschließen alle rund 160 Kreisverwaltungen der ÖTV, ob sie weiterhin zu Ver.di stehen. Dieses Verfahren der Rückkopplung der Gewerkschaftsoberen mit ihrer Basis war in der ÖTV bislang nur im Rahmen harter Tarifauseinandersetzungen üblich. Mitte kommender Woche wird der ÖTV-Hauptvorstand über Fortsetzung oder Abbruch der Ver.di-Gründung entscheiden, endgültig - so bislang ÖTV-Vorsitzender Herbert Mai.

Kein hochrangiger ÖTV-Funktionär traut sich augenblicklich zu, eine Prognose über das Votum der Kreisverwaltungen abzugeben. Allerdings haben schon die beiden größten ÖTV-Bezirke in Nordrhein-Westfalen und Bayern sowie der Bezirk Sachsen-Anhalt deutlich gemacht, dass ihnen die Kompromisse - nicht nur über die Finanzverteilung - nicht reichen. Diese drei bringen zwar noch keine Ablehnungsmehrheit zusammen. Doch schon 20 Prozent Ablehnung würden reichen, um spätestens im Frühjahr 2001, wenn die ÖTV abschließend und endgültig über ihre Auflösung zu befinden hat, Ver.di zum Platzen zu bringen. Deshalb wäre es für Herbert Mai ein Vabanque-Spiel, in der kommenden Woche mit einer einfachen Mehrheit Ver.di weiter betreiben zu wollen, zumal er beim regulären Wahlkongress der ÖTV im kommenden Herbst wiedergewählt werden möchte.

Das Projekt der Neugründung einer Gewerkschaft statt Übernahme schwächelnder Partner könnte also schon in der kommenden Woche scheitern. Anschlüsse schwacher Gewerkschaften an stärkere Organisationen wären dann wieder die Alternative. Danach könnten sich die IG Medien (Mitgliederverluste 1999: - 3,0 Prozent) wie auch die Eisenbahnergewerkschaft (- 4,0 Prozent) der IG Metall annähern. Der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (- 4,4 Prozent) wird immer wieder nachgesagt, in abgeschotteten Zirkeln über einen Anschluss an die Chemie-Gewerkschaft nachzudenken. Auch der Bau-Gewerkschaft (mit minus 4,8 Prozent an der Spitze der Mitgliederverluste) geht es schlecht. Das Muster von Anschluss und Fusion bleibt immer dasselbe - auch im DGB, der sich gerade anschickt, die Zahl seiner fälschlich "Landesbezirke" genannten Gliederungen auf sieben oder acht zu verringern, untergliedert in "Kreise", die dann zum Teil fast den Bereich halber Bundesländer umfassen werden.

Inhaltliche und strukturelle Reformen vertagen die Gewerkschaftsvorstände dagegen weiterhin. Eine "angemessene" gewerkschaftliche Antwort auf die Anforderungen der "Informations- und Dienstleistungsgesellschaft" des 21. Jahrhunderts sollte Ver.di werden, so noch am vergangenen Samstag in Berlin der DPG-Vorsitzende Kurt von Haaren. Doch die Gewerkschaft mit den geringsten Mitgliederverlusten ist die der Polizei (GdP). Kein gutes Omen für das 21. Jahrhundert.

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