Ich mache mich zur Insel

Isolation „Nichts Neues für die Menscheit. Für mich aber schon“: Ein Professor für Wahrnehmungspsychologie wird sich seiner Lage bewusst – im Privaten und kulturgeschichtlich

Inzwischen fühlen sich die Maßnahmen des social distancing gar nicht mehr so ungewohnt an. Vom Training der neuen Verhaltensweisen wollen wir erzählen, und wie wir mit der Situation klarkommen. Wir sind eine vierköpfige Familie: Illustratorin, Kulturwissenschaftler und zwei studierende Kinder. Die Hochschulen sind immer noch geschlossen und so haben sich alle vier Arbeitsplätze nach Hause verlagert. Da waren sie zwar zum Teil vorher auch schon – aber jetzt sind sie es dauerhaft und bei allen gleichzeitig (teils extra wieder aus der Fremde nach Hause gekommen). Und Künstlernaturen beanspruchen manchmal ziemlich viel Raum.

Ich hab’s besser als die Kreativen. Ich bin Intellektueller, ich bin sowieso die meiste Zeit in meinem Kopf. Da fällt mir die Isolation manchmal gar nicht so auf. Allerdings macht der Haushalt viel mehr Arbeit als sonst. Weil wir jetzt jeden Tag selber kochen und immer da sind, entsteht mehr Dreck – kochen, abspülen, staubsaugen, Schreibtisch aufräumen. Hausarbeit ist eine Form von Aktivität, die mich eher rausholt aus meiner Isolation, aus meinen Gedanken, aus meinen Büchern.

Langsame Erholung

Schlimm finde ich nach wie vor die Herausforderung, meinen Tag zu strukturieren. Ohne meinen Arbeitsplatz verwechsele ich dauernd das private Ich und das professionelle Ich. Dann schaue ich YouTube-Filme mit den Fails des Monats anstatt zu recherchieren und benutze meinen Rotstift, mit dem ich eigentlich Hausarbeiten korrigiere, um Sudokus zu lösen. Meine professionelle Effizienz erholt sich nur langsam.


Diese Extremsituation finde ich aber auch spannend. Das ist etwas Besonderes – obwohl das Phänomen Epidemie ein Grundbestandteil der menschlichen Kulturgeschichte darstellt. Immer wenn Menschen durch die Welt gezogen sind (und das taten sie seit jeher: Menschen wurden überhaupt erst Menschen, weil sie zunächst durch Afrika und dann um den ganzen Globus wanderten), haben sie Krankheitserreger im Gepäck gehabt.

Dauernd haben sie unterwegs neue Krankheiten aufgesammelt und verteilt: Pest, Syphilis, Cholera, Typhus, Kinderlähmung, Pocken, Grippe – die Liste ist endlos. Wir sind eben nie alleine, immer tragen wir ein ganzes Ökosystem von Bakterien, Viren, Bazillen, Pilzen in und auf uns herum. Von diesen Mikroorganismen sind viele hilfreich, die meisten unschädlich und ein paar richtig fies.

Mit Gift getränkt

Von den nomadischen Jäger- und Sammlerkulturen über verschiedenste Phasen der Völkerwanderungen bis hin zu imperialistischen und kapitalistischen Globalisierungsdynamiken gab es immer wieder Epidemien durch neue Kontakte. Manchmal haben sie die Invasoren, oft die indigene Bevölkerung, und immer wieder auch alle zusammen schwer dezimiert. Hin und wieder wurde die Ansteckung sogar bewusst als Waffe eingesetzt, indem man zum Beispiel im 14. Jahrhundert Pestleichen mit Katapulten in belagerte Städte schleuderte oder Militärs im 20. Jahrhundert versuchten, mit Milzbranderregern gegnerische Soldaten zu verseuchen.

Die Sprache, mit der man die Pandemie beschreibt, reflektiert diese uralte Kulturgeschichte der Infektion. Eine Epidemie ist ein Schicksal, das über ein ganzes Volk (grch.: demos) kommt: es wird infiziert, was nämlich so viel bedeutet wie „mit Gift getränkt“ (von lat.: inficere: hineinmachen, anmachen, anstecken). Das lateinische Wort virus hatte ursprünglich die Bedeutung Gift oder giftiger Saft. Corona heißt auf Lateinisch Krone, und man nennt die Erreger so, weil diese Gruppe von Viren solch hübsche kleine Hörnchen trägt, dass es unter dem Mikroskop aussieht, als wären sie gekrönt.

Gegen das Kronengift hilft derweil nur Isolation. Im 18. Jahrhundert entwickelte sich das Wort Isolation aus dem italienischen isola für Insel. Es meint Vereinzelung, wörtlich heißt Selbstisolation allerdings: sich selbst zu einer Insel machen. Der Begriff Quarantäne kommt ebenfalls aus der Seefahrersprache. Im Barock zwang man verseuchte Schiffe, vierzig Tage (frz.: quarante = 40) vor dem Hafen liegen zu bleiben, bis alle an Bord entweder gestorben oder geheilt waren. Übrigens regnete es während der biblischen Sintflut auch vierzig Tage und Nächte, und die Fastenzeit dauert ebenso lange. Vierzig ist wohl eine alte Zahl der Reinigung. Mittlerweile haben wir die vierzig Tage ja fast rum.

Zum Beispiel Gaugin

Diese Quarantäne damals war wirklich eine raue Form, soziale Distanz herzustellen. Distanz kommt etymologisch vom lateinischen Verb stare, stehen. Distare heißt voneinander wegstehen. Innerhalb der societas, der Gemeinschaft, ist es gar nicht so einfach diese Haltung einzunehmen. Denn socius bedeutet das genaue Gegenteil, nämlich: in Verbindung stehend. Aus dieser widersprüchlichen Aufforderung entsteht eine Irritation, die man derzeit bei vielen Leuten beobachten kann.

Immer wieder haben sich Menschen auch freiwillig zur Insel gemacht: In der spirituellen Technik der Einsiedelei etwa oder wenn die Paul Gaugins dieser Welt in der Südsee der Entfremdung ihrer europäischen Zeitgenossen zu entkommen suchten. Während der Naziherrschaft in Deutschland gab es den Begriff der „inneren Emigration“. Das beschrieb das Verhalten von Antifaschisten, die das Land nicht verlassen konnten oder wollten.

Anstatt zu emigrieren oder offen Widerstand zu leisten, haben sie sich ins Private zurückgezogen, heimlich kritische Pamphlete verfasst, „entartete Kunst“ gemacht oder verbotene Bücher gelesen. Das ist auch eine Form der Selbstisolation. Gerade viele Kreative haben hinterher berichtet, dass diese innere Emigration ihre Ideenproduktion besonders nachhaltig angeregt hat. Einschränkungen fördern oft die Kreativität.

Seit 60.000 Jahren

Dabei sollen aber die psychischen Folgen keineswegs verharmlost werden: Isolation gehört zu den effektivsten Foltertechniken überhaupt – am grausamsten wohl als „sensorische Deprivation“, bei der möglichst alle Sinnesreize entzogen werden. Selbstisolation hat einiges mit einer erzwungenen Haft oder Hausarrest gemeinsam, allerdings entsteht sie aus individueller Entscheidung, nicht über äußerliche Gewalt. Der selbstgefasste Entschluss mildert zwar einige der schädlichen Effekte, verhindert sie aber nicht.

Insofern ist das Alles historisch betrachtet nichts Neues. Für mich persönlich aber schon. Die Tatsache, dass wir die Natur offenbar nicht so weit unter Kontrolle haben, dass sie uns nichts mehr anhaben könnte, finde ich enorm spannend. Ich stelle mir vor, wie die früheren Vertreter*innen der Gattung Homo sich total fortschrittlich vorkamen, weil sie Stöcke anspitzen konnten, mit Steinen schmeißen und Sternbilder erkennen. Die dachten sich bestimmt: Wie gut, dass wir in solch technologisch hochentwickelten Zeiten leben und nicht mehr wie unsere Vorfahren schutzlos den Unbilden der Natur ausgeliefert sind.

Die Pandemie macht mir klar: Dieses überhebliche Selbstverständnis als Hominiden pflegen wir seit, sagen wir mal, 60.000 Jahren. Kultur – vom Stock bis zur Impfung – ist nicht das Gegenteil von Natur, sondern eine ihrer Formen. Es ist seltsam, aber dass sie ein Stück Natur sind, merken die Menschen offenbar immer erst, wenn’s wehtut. Auch wenn mich die weltweit nach wie vor steigende Zahl der Kranken und Toten erschüttert, fasziniert mich das Phänomen Epidemie. Ich merke, wie ich diese persönliche Herausforderung angehe, indem ich professionell die Kulturgeschichte zu Rate ziehe, die Sprache abtaste, um mir einen Reim darauf zu machen.

Mein Job und mein Privatleben kommen sich näher. Wenn ich mich zur Insel mache, lerne ich mich, meine Iche, auf neue Weise kennen. Und auch die Zusammenarbeit zwischen mir und meiner Familie wächst unter diesen Bedingungen – wie dieser Artikel beweist.

Friedrich Weltzien ist Professor für Kreativität und Wahrnehmungspsychologie in Hannover. Vanessa Karré illustrierte unter anderem für die Süddeutsche Zeitung und Judith Holofernes. Mehr unter: http://www.vanessa-karre.com/

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