Die vorgezogenen Bundestagswahlen im September bedeuten wahrscheinlich für Bündnis 90/Die Grünen das Ende ihrer Regierungsbeteiligung. Was bleibt von der Partei übrig, die sich in den vergangenen Jahren enorm - manche würden sagen: bis zur Unkenntlichkeit - verändert hat? An welchen ihrer Kernprojekte sollte die Partei festhalten, und wie wird sie sich weiter entwickeln? Im Freitag vom 8. Juli hatte Frieder Otto Wolf die Grünen im Fegefeuer beschrieben: eine Partei könne nicht zugleich eine Alternative und die "neue Mitte" sein wollen. In dieser Ausgabe erklärt Frithjof Schmidt, dass es den Grünen nicht um die neue Mitte geht, sondern um die neuen Mittelschichten.
Über politische Bilanzen von Parteien und Regierungen lässt sich trefflich streiten, denn es kommt dabei natürlich nicht nur auf Fakten, sondern auch auf Erwartungen und auf den Maßstab an. Eine Bilanz grüner Politik nach zehn Jahren Landesregierung in NRW, dem größten Bundesland, und sieben Jahren Bundesregierung kann, so meine ich, wichtige Punkte auf der positiven Seite verbuchen.
Wer sich international umhört, wird feststellen, dass Deutschland im Umwelt- und Verbraucherschutz inzwischen als Vorbild gilt. Es hat sich deutlich gezeigt, dass ökologische Innovationen eine wichtige Leitfunktion für eine moderne Industriepolitik haben und dass die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen und wirtschaftliche Entwicklung sich nicht als Gegensätze blockieren müssen, sondern zukunftsfähig zusammenwirken können.
Der begonnene Ausstieg aus der Atomkraft und das Umsteuern zu einer regenerativen Energieproduktion werden auch international von vielen Nichtregierungsorganisationen als Eckpfeiler einer Energiepolitik für das 21. Jahrhundert bewertet.
Die Einleitung einer neuen Agrarpolitik kann auf nationaler Ebene natürlich nicht die Defizite der verfehlten EU-Politik aufwiegen. Trotzdem wurde so eine Trendwende eingeleitet zu mehr Qualität der Lebensmittel, zu mehr Schutz für Menschen, Natur und Tiere, für den Erhalt der Vielfalt und der Sicherheit unserer Nahrungsgrundlage. Die Macht der Verbraucherinnen und Verbraucher wurde gestärkt.
In der Gesellschaftspolitik wurde das noch aus der Kaiserzeit stammende Staatsbürgerschaftsrecht reformiert, und mit der politischen Anerkennung Deutschlands als Einwanderungsland wurden die Voraussetzungen geschaffen für eine zukunftsfähige Integrationspolitik. Mit der eingetragenen Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare hat eine kleine Kulturrevolution stattgefunden, daran kann niemand zweifeln, der etwa die entsprechenden aktuellen Debatten in Frankreich oder Spanien verfolgt. Bei der Gleichstellung von Frauen und Männern, der Vereinbarkeit von Familie und Beruf wurden durch die breite Förderung der Ganztagsschule in einem Schlüsselbereich wichtige Fortschritte erzielt. Mit dem Konzept für eine Bürgerversicherung haben die Grünen der Debatte über eine solidarische Reform der sozialen Sicherungssysteme einen wichtigen Impuls gegeben. Eine deutsche Beteiligung am Irak-Krieg wurde auch durch die deutsche Außenpolitik verhindert.
So schlecht ist diese Bilanz also gemessen an den grünen Prozentanteilen bei Wahlen nicht. Das gilt insbesondere dann, wenn man die Verfassung des sozialdemokratischen Koalitionspartners berücksichtigt.
Zur negativen Seite der Regierungs-Bilanz zählt, dass in Jugoslawien und Afghanistan die Bundeswehr erstmals in Kriegseinsätze geschickt wurde. Und innenpolitisch ist auf der negativen Seite der Bilanz zu verbuchen, dass in der Steuerpolitik das Grundprinzip der gerechten Lastenverteilung ebenso verwischt wurde, wie in der Sozialpolitik das Ziel einer armutsfesten sozialen Grundsicherung nicht mehr erkennbar ist. Nach den vorgezogenen Bundestagswahlen werden die Grünen in dieser Hinsicht die schon begonnene selbstkritische Diskussion fortsetzen müssen. Darauf weisen viele Kritikerinnen und Kritiker von links bis rechts hin. Doch diese Feststellung sollte über eines nicht hinwegtäuschen: Die Grünen haben nach wie vor ein konkretes und gründliches Programm für ein ökologisch-solidarisches Umsteuern.
Die Grünen sind die erste Partei der Globalisierung. Ihre Programmatik leitet sich ab aus den in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts deutlich sichtbar gewordenen globalen ökologischen Folgen der Industrialisierung. Klimaveränderungen, Luft-, Wasser- und Bodenverseuchung, die Endlichkeit der Ressourcen können nur global gesehen werden und begründen die Forderung nach einem Umsteuern zu nachhaltiger Entwicklung. "Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geborgt" - als breite internationale Bewegung haben die Grünen das politisch bis auf die kommunale Ebene durchbuchstabiert.
Eine entscheidende politische Leistung der Grünen als Partei besteht darin, dass sie die globalen Fragen des Überlebens der Gattung Menschheit programmatisch immer konkreter mit den sozialen und politischen Interessen der "neuen Mittelklassen" und der "Unterschichten" und "Ausgegrenzten" moderner Industriegesellschaften verbunden haben.
Es ist schwierig geworden, über die offensichtlichen Veränderungen der Gesellschaftsstrukturen und ihre politischen Folgen nüchtern zu diskutieren. Durch das ideologische Gerede von "der neuen Mitte und ihrem drittem Weg" (SPD) und von "Volksparteien neuen Typs" (FDP) im Zusammenhang mit dem inzwischen zerplatzten Boom der "new economy" steht jede politische Bezugnahme auf die Interessen der neuen Mittelklassen unter dem Verdacht des Neoliberalismus. Dabei hat das vorübergehende Phänomen der Yuppies der "New economy" mit der grundlegenden Veränderung unserer Gesellschaftsstruktur nur wenig zu tun.
Noch vor 30 Jahren waren 40 bis 50 Prozent der Arbeitskräfte in den Industrieländern einfache Lohnarbeiter im Bereich der industriellen Produktion. Inzwischen ist ihr Anteil in den meisten Ländern auf unter 20 Prozent gesunken. Die Anforderungen von High-Tech-Produktion und der Trend zur Dienstleistungsgesellschaft haben die Unterschiede zwischen Facharbeiter- und Angestelltentätigkeiten immer mehr verwischt. Die Bildungsreformen bis Mitte der siebziger Jahre haben hier enorm viel verändert.
Die neuen Mittelklassen bestehen im Kern aus lohnabhängigen Berufen mit hoher Bildungs- beziehungsweise Ausbildungsqualifikation. Die Spreizung der Einkommensverhältnisse ist groß: von den Pflegeberufen im Gesundheitswesen über Betreuungs- und Lehrberufe im Bildungsbereich, Verwaltungsberufe, technische und betriebswirtschaftliche Berufe. Ergänzt wird dies durch die Gruppen neuer Selbstständiger, oft in ganz ungesicherten Verhältnissen agierender "Kleinstunternehmer" die parallel in den genannten Bereichen und darüber hinaus zum Beispiel auch in kreativen Bereichen entstanden sind. In diesen Schichten verbinden sich widersprüchliche Interessen, etwa nach einem hohen Maß an kollektiver sozialer Absicherung bei gleichzeitigem flexiblen Zuschnitt auf individuelle "Erwerbsbiographien". Der schnelle soziale Absturz in das untere, praktisch ausgegrenzte Drittel einer Zweidrittel-Gesellschaft steht für die meisten als Gefahr im Raum. Dies alles führt dazu, dass in diesen Milieus eine politische Grundeinstellung dominiert, die sich als linke Mitte sieht, offen für Neuerungen, ökologisch bewusst und der gesellschaftlichen Solidarität verpflichtet.
Diese neuen Mittelklassen wachsen in der "Dienstleistungsgesellschaft" weiter stark an und sind bedeutender als die klassische Industriearbeiterschaft oder die klassischen alten Mittelklassen geworden. Sie sind die eigentliche gesellschaftliche Herausforderung für eine moderne linke Politik.
In den neunziger Jahren haben die Grünen vor diesem Hintergrund die Strategie eines "ökologisch-solidarischen Gesellschaftsvertrages" (Bundestagswahlprogramm 1994) formuliert. Das Ziel war, die lebensweltlichen Interessen der modernen Mittelschichten mit den verteilungspolitischen Interessen der Arbeiterbewegung und der Ausgegrenzten der deutschen Zweidrittelgesellschaft so zu verknüpfen, dass daraus ein neuer Reformblock mit einer parlamentarischen Machtperspektive entstehen konnte. Dieses Konzept ist nur - aber immerhin - teilweise aufgegangen.
Die Grünen haben auf Grundlage einer klaren Wertorientierung die heterogenen Interessenlagen der neuen Mittelschichten in hohem Maße in ihre Programmatik aufgenommen. Deshalb können sie glaubhaft scheinbar Gegensätzliches vertreten, zum Beispiel Erleichterungen bei der Einkommenssteuer für breite Schichten einerseits, Erhöhung von gezielten Verbrauchssteuern (Ökosteuer) andrerseits; Verbreiterung der kollektiven sozialen Absicherung durch Umverteilung einerseits (Bürgerversicherung) und stärkere Individualisierung andererseits (private Zusatzvorsorge); Entbürokratisierung und stärkere Entstaatlichung einerseits, stärkere ökologische Regulierung andrerseits.
Der Vorwurf verschiedener Kritiker der Grünen von links und rechts, dies sei opportunistisch oder unklare Politik, verkennt völlig, dass die Grünen hier die differenzierten Interessenlagen ihrer sozialen Basis konsequent im Rahmen ihrer Wertorientierung in praxistaugliche Politik umformulieren. Übersehen wird auch, dass mit einem solchen Konzept eine soziale und politische Bündnisstrategie von links bis weit in die Mitte der Gesellschaft möglich wird. Und das ist die entscheidende Frage für eine gesellschaftliche Mehrheitsbildung für die politische Programmatik der Linken.
Die Grünen konnten mit der Verabschiedung ihres neuen Grundsatzprogramms im März 2002 ihr Profil als sozial-ökologische Bürgerrechtspartei der linken Mitte (und das heißt eben vor allem der "neuen Mittelklassen") deutlich schärfen. Sie können damit den Anspruch untermauern, die moderne, linke Partei in Deutschland mit einem strategischen Konzept zur Mehrheitsbildung zu sein.
Mit der erfolgreichen Ausdehnung ihrer politischen Kernkompetenz vom Umwelt- auf den Verbraucherschutz haben die Grünen die soziale und wirtschaftspolitische Dimension nachhaltiger Politik neu justiert. Ihre grundlegende politische Legitimation beziehen sie daraus, dass sie die politische Kraft sind, die konsequent für die notwendige Lösung der Überlebensfragen der Menschheit streitet. Die Grünen haben ein großes Thema, das auf lange Sicht hochaktuell ist und eine soziale Basis, die auf lange Sicht weiter wächst. Das sind Faktoren, die ihnen dauerhaft eine Schlüsselrolle in der Linken und damit auch im deutschen Parteiensystem sichern können.
Frithjof Schmidt ist Landesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen in Nordrhein-Westfalen und Mitglied des Europäisches Parlaments.
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