Heureka, ich hab´s gefunden!" wird der leitende Ingenieur der japanischen Firma Otsuka Pharmaceutical Company gerufen haben, als er eine breite Palette künstlicher "Nährstoffe", von Vitamin B 12 bis Pantothensäure, zu einem biskuitförmigen Stängel designed hatte. Und er hatte auch allen Grund dazu. Denn dieses Novel Food (was rein gar nichts mit Nouvelle Cuisine zu tun hat), mit der gesundheitsbewussten Beifügung Balanced Food als Calorie Mate Block auf den Markt gebracht, war nicht nur "maßgeschneidert natürlich für Menschen unterwegs, die ein einfaches, energiereiches und nahrhaftes Lebensmittel benötigen", wie der Beipacktext verspricht. Denn dieser denaturierte Stängel "zum Frühstück, bei der Arbeit, beim Studium oder zu jeder anderen hektischen Zeit" versprach der wettbewerbsgeschüttelten Nahrungsmittelindustrie die lang ersehnte, ultimative Lösung.
Deshalb ruhten auch die Food-Engineers der Konkurrenz nicht, bis sie ähnliche großtechnische Meisterleistungen zustande gebracht hatten: Nach kürzester Zeit kreierte die Takeda Food Company, eine Tochtergesellschaft der Tadeka Chemical Industries, einen Vitamin Salad ohne die Spur eines Salatblattes, dafür mit pulverförmigen Anteilen von getrocknetem Gemüsemais, Kürbis, Kohl, Spinat sowie Karotten, angereichert mit zahlreichen künstlichen Vitaminen. Das bisher letzte Vitaminbiskuit präsentierte die japanische Firma Pola Cosmetic Incorporation mit Balanced-up.
Von Coca-Cola zu Cola light
Der Trend in Richtung dieser verschiedenen Arten von synthetischen, beinahe unbeschränkt haltbaren und ästhetisch gestylten Produkten zeichnet sich in der Nahrungsmittelindustrie seit dem 19. Jahrhundert ab und verläuft synchron mit dem Anstieg des industriellen (kapitalintensiven) Anteils an den Lebensmitteln. In einer ersten Phase wurden Lebensmittel technisch behandelt, dann herkömmliche Produkte industriell produziert und schließlich industriell erzeugte Ersatzstoffe eingesetzt.
Die Einstiegsdroge in der letzten Phase war Coca-Cola (Wasser, Zucker, Farbstoff Karamel, Säuerungsmittel E 338, Aroma, Koffein - und sonst nichts). Es folgten die Diätmargarinen - Verfälschungsprodukte der Butternachahmung "Margarine". Diese Meta-Surrogate erfand nicht die Not, sondern der schiere Überfluss. Sie bestehen aus Farbstoffen, um das Produkt überhaupt als ansehnlich verkaufen zu können, Stabilisatoren, um es zumindest beschränkt gebrauchsfähig zu machen, Aromen, um ihnen einen margarineähnlichen Duft zu verleihen, und Vitaminen in so geringer Dosierung, dass sie auch bei übermäßigem Verzehr keinen Effekt zeitigen. Ernährungswissenschaftlich sind Diätmargarinen völlig wertlos. Wie die nachfolgenden "Light"-Produkte gewöhnten sie die Konsumenten an chemische Nahrung, ohne vom natürlichen Bedarfslimit von 4000 Kalorien pro Tag sonderlich beschränkt zu werden.
Die nächste erfolgreiche Stufe nahm das Food Engineering mit der Herstellung von Kunstfett-Kreationen, wie Maltrin (aus Maisstärke), Paselli SA (aus Kartoffelstärke), N-Oil aus Tapiokastärke und Nutrifat C (aus einer Mischung aus verschiedenen Stärkespaltprodukten). Allen diesen Kunstfetten ist jedoch noch ein entscheidender Nachteil eigen: Sie lassen sich nicht hoch erhitzen, eignen sich also nicht zum Backen, Braten und Frittieren. Erst das vom amerikanischen Konzern Procter Gamble (Produzent von Meister Proper und Pampers) nach 25-jähriger Forschungsarbeit entwickelte Kunstfett Olestra überwand dieses Manko durch Beimengung eines widerstandsfähigen, aber vollkommen unverdaulichen Saccharose-Polyester (beim Food Engineering dient das Jojobaöl - ein Wachs - als Vorbild). Olestra imitiert außerdem auf der Zunge den sahnig-buttrig-cremigen Speisegeschmack und ist absolut kalorienfrei. Da dieses Kunstfett von den Darmbakterien aber nicht abgebaut werden kann, verursacht es Magenkrämpfe und Verdauungsstörungen. Der mit Olestra vermengte menschliche Stuhl müsste nach herkömmlichen Kriterien als Sondermüll behandelt werden, da das Kunstfett auch von den Mikroorganismen im Boden nicht abgebaut werden kann. Trotzdem hat Olestra in den USA die Prüfung durch die Food and Drug Administration (FDA) überstanden und darf dort bereits in Kartoffelchips und anderen Fast-Food-Snacks verarbeitet werden.
Was in Claude Zidis Film Brust oder Keule der Gastronom und Feinschmecker Charles Duchemin, verkörpert durch Louis de Funès, noch mühselig durch Einbruch und Werksspionage beweisen will - die heimliche, fabriksmäßige Erzeugung von Produkten, die nach juristischen Kriterien vielleicht noch Nahrung, keinesfalls aber mehr Lebens-Mittel im eigentlichen Sinn des Wortes sind -, findet heute bereits vor aller Augen unter staatlicher Aufsicht statt. Und nicht nur in Japan und den USA.
Keine Kennzeichnungspflicht für Kunstprodukte
Die Lebensmittel- und Getränkeindustrie gehört mit 1,5 Trillionen Dollar Jahresumsatz zu den Industriezweigen, in der die Zentralisierung und Monopolisierung am weitesten fortgeschritten ist, nach dem Brechtschen Motto, dass über das Fleisch in der Suppe nicht in der Küche entschieden wird.
Acht Konzerne - Unilever, Nestle, BSN, Cabury, Schweppes, AB, United Biscuits, Hillsdown und San W. Berisdorf - versorgen heute zu 70 Prozent den gesamten europäischen Markt, angefangen bei der (für die Geschmacks(ver)bildung ungewöhnlich wichtigen) Babynahrung über Kekse und Cornflakes bis hin zur Tiernahrung. Die weltumspannende Strategie der Lebensmittelkonzerne wird dafür sorgen, dass sich Balanced Food, Olestra oder ähnliche Kunstprodukte auch bei uns durchsetzen. Bei der nach zehnjähriger Diskussion vom Europäischen Parlament und Rat 1997 verabschiedeten Novel Food-Verordnung ist es der Confédération des Industries Agro-Alimentaires de l´UE, dem europaweiten Zusammenschluss der Lebensmittel- und Getränkeindustrie, immerhin gelungen, in die restriktiven Regelungen eine solche Vielzahl unklarer Rechtsbestimmungen einzubauen, dass juristische Anwendungprobleme deren Durchsetzung zumindest sehr hemmen werden. Außerdem unterliegen nach dieser Richtlinie ausgerechnet jene Lebensmittel, die am weitesten von herkömmlicher Nahrung entfernt sind, keiner Kennzeichnungspflicht. Die Hintertür für (bio-)chemisches Food Design jeder Art ist damit sperrangelweit offen. Die unter Jugendlichen beliebten Energy Drinks werben als Fittmacher, in Frankreich wird bereits ein Multivitaminkuchen Barre Mémoire zur Stärkung der Konzentrationsfähigkeit von Kindern vertrieben: "Balanced Food macht fun" und ist "ernährungswissenschaftlich wertvoll", reklamiert die Industrie für ihre Produkte, denen design-vollendet ein Etikett "aus Großmutters Rezeptbuch" aufgepappt wird.
Was Meisterköche bieten
Diese absehbare Entwicklung ist umso absurder, wenn man bedenkt, dass erstmals in der neueren Geschichte die landwirtschaftlichen Ressourcen in Europa ausreichen, um die Bevölkerung im Überfluss zu ernähren. Mehr noch. Am Ende seines Buches Physiologie des guten Geschmackes beklagte der 1826 verstorbene Pariser Feinschmecker-Papst Jean Anthelme Brillat-Savarin sich selbst und alle anderen Gourmets, weil "sie die Entdeckungen nicht werden kosten können, welche die Wissenschaften für das Jahr 1900 vorbereiten", so wenig wie die "mineralischen Essstoffe, die Säfte, die mit einem Druck von hundert Atmosphären bereitet werden".
Unter welchen Umständen hätte diese Klage Brillat-Savarins hier und heute Berechtigung? Müssten dazu wirklich Edel-Burger entstehen, wie das renommierte Old Homestead Steak House in New York? Dort wird nach japanischem Vorbild Fleisch von Rindern verarbeitet, die während der Mast Bier trinken, mit Musik berieselt und von Hand massiert werden. Oder bedarf es neuer Haute-Cuisine-Versionen, wie sie der berühmte französische Koch Daniel Boulud im Gegenzug am East River kreierte? Ich denke nicht. Selbstbedienungstankstellen, in denen eine vollmundige Minestrone und ein deliziöses Spargelrisotto zu leistbaren Preisen für alle verabreicht wird, wären hinreichend und machbar - wenn, ja wenn unsere Kochkünstler nicht vollends damit beschäftigt wären, mit Balanced Food die fragilen Renditen der Nahrungsmittelindustrie zu stabilisieren.
Der Autor ist im Wiener Marktamt tätig.
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