Fernsehen ist, wenn nicht gerade gezockt wird, eine einzige Katastrophe. MKS und BSE, Erdbeben, Überschwemmungen, einstürzende Brücken. Und dazwischen das Mädchen Ulrike. Wochenlang hat der Fall des verschwundenen, missbrauchten, ermordeten Mädchens aus Eberswalde die Agenda der Fernsehnachrichten bestimmt. Zwischen öffentlich-rechtlichen und kommerziellen Sendern waren Unterschiede kaum mehr festzustellen. Sondersendungen gab´s hier wie da. Immer wieder wurden die gleichen Bilder recycelt und das verbeulte Fahrrad im Schnee schaffte es sogar auf die Titelseite des Spiegel. Als schließlich die Leiche gefunden wurde, aber noch niemand etwas Näheres wusste, da packten etwa die Redakteure der Pro7-Nachrichten alles Archivmaterial zusammen, das sie
zusammen, das sie kriegen konnten. Die Geschichte musste warm gehalten werden.Merkwürdigerweise hat niemand die Frage gestellt, wie es kam, dass dieser Fall in der Öffentlichkeit zu einem solchen Medienhype werden konnte. Das Bild des anrührend hübschen Mädchens, gewiss. Dieses plötzliche Verschwinden, was niemand sich für sich vorstellen mag und jeder sich vorstellen kann. Der Einbruch des Verbrechens ins normale Leben. Andererseits sind Entführung, Missbrauch und Mord zwar nicht alltäglich, aber auch nicht singulär. Was also machte den Fall Ulrike so spektakulär?Eine genaue Rekonstruktion dürfte zeigen, dass die Medien, das Fernsehen vor allem, in diesem Fall mehr als sonst eingespannt waren, und zwar von Anfang an. Mit den Appellen der Eltern über das Fernsehen fing es an. Öffentlichkeit herzustellen, gehörte offensichtlich auch von Anfang an zur Taktik der Polizei. Die ausdauernd propagierte Zuversicht, das Mädchen lebe noch, geriet in immer stärkeren Widerspruch zur wachsenden Befürchtung, sie müsse tot sein. So rutschte der Fall in die Zugkräfte einer Spannungsdramaturgie und musste sich mehr und mehr nach deren Gesetzen bewegen.Von Tag zu Tag wurden damit die Bilder grotesker. Täglich durchstreiften Hundertschaften von Polizei Wald und Gelände, drehten jeden Stein um, schauten hinter jeden Holzstapel - und hinterließen doch nur den Eindruck einer medialen Selbstrechtfertigung. Den Gipfel der Hilflosigkeit setzten die Tornadoflüge der Bundeswehr als donnerndes Ritual der Ohnmacht. Höchste Aktivität unter Einsatz von High-Tech, aber keine Anhaltspunkte. Tatsächlich wurde die Leiche von einem Spaziergänger gefunden und der Täter dank des genetischen Fingerabdrucks. Alles ohne Zutun der Medien. Der Medienfall Ulrike hatte sich längst von der Realität abgelöst.Die Medien selbst spielten ihre Rolle darin gut. Das Stadium des bloßen Berichtens verließen sie bald und machten den Fall zu ihrer Geschichte, mischten sich unmittelbar ein, spielten Suchtrupp wie seinerzeit Eduard Zimmermann bei XY ungelöst. Als die Nachrichtenmacher von Pro7irgendwo aufschnappten, die Polizei suche einen Zeugen in einem blauen Nissan-Pickup, da präsentierten sie Bilder irgendeines blauen Nissan-Pickups, irgendwo im Sommer aufgenommen; sogar der Fahrer war erkennbar. Auch in allen anderen Sendern wurden die Bilder präsentiert in einer Weise, wie man sie normalerweise in Polizei-Akten findet. Das ausgebrannte Auto, die Haarspange - kriminaltechnische Details in einem Real-life-Drama.Auf diese Weise wurde auch das Bild des verbeulten Fahrrads in ein symbolisch aufgeladenes Bild verwandelt: brutal umgefahren, zerstörtes Leben. Schnee legt sich darüber, die Kälte der Gesellschaft. Der Spiegel schrieb: "Und so wurde das verschneite Kinderfahrrad zum Symbol des brutalen, ungehemmten Schreckens, der immer dann ins Bewusstsein zurückkehrt, wenn ein Kind verschwindet." Alle zentralen Motive sind hier angesprochen. Mit dem Unterschied, dass solche Bilder nicht einfach ins Bewusstsein zurückkehren, sondern dorthin zurückgebracht werden. Durchaus symptomatisch gebrauchen die Spiegel -Autoren das Adjektiv "ungehemmt" als eine Eigenschaft des Schreckens - wo es doch vor allem eine Eigenschaft des aktiven Er-Schreckens ist. Ungehemmt ist vor allem das andauernde Katastrophen- und Erregungs-Recycling.Weshalb der Spiegel nicht nur das Bild des beschädigten Fahrrads auf den Titel gepackt und es damit erst zum Symbolbild erhoben hat, sondern in seiner Titelgeschichte zugleich in den Fall Ulrike alles eingerührt hat, was einem so einfallen kann, wenn man die Gesellschaft am Umgang mit den Kindern messen will. Der Fall Dutroux wurde noch einmal aufgetischt, die russische und italienische Mafia kam ins Spiel, die vielen verschwundenen Halbwüchsigen, drogensüchtige Straßenkinder am Bahnhof Zoo und Computerkids, die die Schule schwänzen. Fast nichts davon hatte auch nur entfernt noch etwas mit dem Mädchen Ulrike zu tun.Übertroffen wurde das Verfahren noch von Sabine Christiansen. Die Sendung unter dem Titel: Ulrikes Mörder - Symbol einer zerrütteten Gesellschaft unterbot mühelos alle bisherigen Tiefflüge der Christiansen-Talkshow. Auch hier wieder alles eingerührt und parteipolitisch verwässert. Bildungsfragen, die Patchworkfamilie, Kinderfreibeträge, Schulprobleme, betreutes Wohnen. Sabine Christiansen warf leuchtenden Auges den Begriff "broken-home-Zustände" in die Debatte und CDU-Generalsekretär Meyer, der wohl wieder einen positiven Medienabdruck hinterlassen musste, brillierte mit der Einsicht: "Wo Kinder mit Eltern zusammenleben, ist Familie; aber wo Kinder mit Eltern sind, ist auch Familie". Deutlicher war kaum zu beweisen, dass sich in Wirklichkeit niemand für das Mädchen Ulrike, für den Kriminalfall oder für den Mörder interessiert. Sie alle sind nichts als Rohmaterial für Medien im Selbstlauf, die sich damit bloß noch auf Betriebstemperatur und am Laufen halten.