Kurzer Blick zurück auf den Fall Tom Kummer. Der Schweizer Journalist, der in Hollywood arbeitet, versorgt viele Blätter mit Prominenten-Interviews. Das Magazin der Süddeutschen Zeitung gehört zu den bevorzugten Kunden. Mitte Mai kommt heraus, dass einige dieser Interviews, etwa mit Kim Basinger oder Brad Pitt, frei erfunden waren, andere auf abenteuerliche Weise montiert aus Fremdtexten, Satzfetzen, Aufgeschnapptem. Große Aufregung. Der Interview-Fälscher reagiert mit Chuzpe und Vorwärtsverteidigung. Um Konzeptkunst und Konzept-Journalismus habe es sich gehandelt, teilt Kummer mit. Außerdem habe er die Medientheorie erweitern wollen. Die Frage, ob er Stars wirklich befragt habe, sei ihm "zu eindimensional": "Mir ging es immer darum, die Definition, was Realität ist und was Fiktion, in Frage zu stellen. Wenn ich schreibe, beginnt eine Implosion des Realen". Die Medienredaktion der SZ, deren Ruf auf dem Spiel steht, veröffentlicht eine zweiseitige Recherche in eigener Sache - etwas Vergleichbares hat es in der deutschen Pressegeschichte noch nicht gegeben. Am Ende müssen die verantwortlichen Redakteure des SZ-Magazins gehen. Der Celebrity-Reporter wird so bald keine Aufträge mehr bekommen.
Damit ist der Fall fürs Erste abgeschlossen. Die Fragen, die er aufwirft, bleiben. Mit dem Begriff des "Borderline-Journalismus" ist der Medienkritik ein neuer Begriff zugeführt, der sie noch häufiger beschäftigen wird. Nicht Kummer hat den Begriff erfunden, sondern einer der Chefs des SZ-Magazins. Aus der Chefetage stammt auch die bedenkenswerte Aussage, was wahr sei und was nicht, das sei eben "nicht die Frage" gewesen. Das SZ-Magazin sei eben anders an seine Themen herangegangen.
Grenzgänger-Journalismus also, munter die Seiten wechselnd zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Finden und Erfinden, zwischen Ereignis und Story. Oder, wer es pathetischer haben will, zwischen Wahrheit und Lüge. "It's all entertainment" hat Kummer zu seiner Rechtfertigung angeführt und auch vermerkt, Redaktion und Leser seien doch von diesen Texten "amüsiert" gewesen. Unterhaltung als das alles rechtfertigende Motiv. Damit rührt der Fall Kummer, so kann man es jedenfalls sehen, an die unangenehme Wahrheit, dass Journalismus und Entertainment in Wirklichkeit näher beieinander liegen, als viele aus der Branche es gerne sehen möchten.
Natürlich verweist der Borderline-Journalismus auf das Mediensystem als Ganzes. Es wird regiert von einer Ökonomie der Aufmerksamkeit, vom Kampf um die Breaking-News oder eben um das exklusive Interview. Wirkliche Exklusivität ist inzwischen ein höchst seltenes journalistisches Ereignis geworden und zerfällt zudem bei den sehr geringen Halbwertzeiten sofort wieder. Da liegt die Versuchung nahe, sich einen minimalen Vorsprung, wenn er anders nicht zu kriegen ist, notfalls auch selbst zu schaffen. Oder zumindest die Illusion davon.
Viele Leute glauben ja immer noch, Interviews stünden immer so in der Zeitung, wie sie in Wirklichkeit geführt worden sind. In Wirklichkeit ist fast jedes Interview ein Flickenteppich aus Text und Gegentext, aus Verbesserung und Verschlimmbesserung, aus Korrektur und nachträglich eingefügten Passagen. Jeder Journalist kennt das Phänomen. Wenn dann der Text abgestimmt wird, streichen die Gesprächspartner ausgerechnet die schönsten und vitalsten Passagen, wollen dies und jenes auf Druck der PR-Berater oder der political correctness nicht mehr gesagt haben und ersetzen die schönsten Sätze durch unverdauliches, uninteressantes Wischiwaschi - da möchte man gern den Freibrief haben, alles selbst erfinden zu können.
Bei Interviews mit Hollywood-Celebrities, wie Kummer sie verkaufte, geht es noch um einiges härter zu. Dies hat die amerikanische Zeitschrift Premiere jüngst vorgeführt - dargestellt wiederum in der offenkundig sensibilisierten SZ. Während viele Leser glauben, Interviews fänden unter vier Augen statt, werden in Wirklichkeit die Journalisten in großen Pulks zu großen Konferenzen, sogenannten "Junkets" eingeladen. Dort teilt man sie in verschiedene kleinere Gesprächsrunden auf und schickt die Stars zu kurzen Statements vorbei. So lassen sich in kurzer Zeit am Fließband Dutzende Fragen abarbeiten. Ganz clevere Journalisten legen mehrere Aufnahmegeräte bei mehreren Gesprächsrunden ab, sammeln sie hinterher wieder ein und haben den begehrten O-Ton. Daheim dürfen sie dann die Fragen dazu erfinden und einen Text abliefern, in dem sie oder die Redakteure glauben machen, hier sei wirklich ein Gespräch geführt worden, nur für die Leser dieses einen Blattes und authentisch. Die meisten Fragen, die ein Journalist dann in einer Zeitung gestellt haben will, hat er aber selbst gar nicht gestellt. Was ist also authentisch?
Nun kann es einem allerdings herzlich egal sein, ob Interviews aus Hollywood gefaked sind oder nicht. Außerdem wurde bei aller Empörung auch kaum erörtert, ob die erfundenen, gesampelten, montierten und ausgeschmückten Texte die Realität der Hollywood-Stars nicht viel besser treffen als die faden Selbstbilder, die sie von ihren PR-Agenten lancieren lassen. Tom Kummer hätte allerdings die Leser von seinen dichterischen Freiheiten informieren und die Landkarten seiner Borderline-Wanderungen offenlegen müssen. Hätte, in welcher Form auch immer, sich mit dem Leser augenzwinkernd verabreden müssen, die Texte als das zu nehmen, was sie sind: Künstliche Nachrichten aus einer künstlichen Welt. Der Glamour freilich und der schöne verkaufbare Schein wären weg.
Glaubwürdigkeit aber wäre gewonnen, vielleicht. Denn darin reicht der Fall Kummer weit in den Alltagsjournalismus und in die medialen Inszenierungen hinein. Politik und zunehmend die Wirtschaft arbeiten ja auch verstärkt an neuen Techniken, mit denen sie steuern, wie sie öffentlich wahrgenommen werden wollen. Hilfreicher als Appelle an die journalistische Ethik wäre es, die eigene Arbeitsweise anzupassen. Warum sollen nicht Journalisten die Entstehungsbedingungen der Arbeit offenlegen und die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Arbeit zum Thema machen? Von Wissenschaftlern und Technikern wird immer häufiger verlangt, dass sie ihr Handwerkszeug herzeigen sollen, damit man ihnen auf die Finger schauen kann. Von den Akteuren der Illusions-Industrie sollte man solches auch verlangen können. Sie sollten es im Interesse der Glaubwürdigkeit und dank besserer Einsicht von sich selbst verlangen. Dann gäbs auch weniger Kummer.
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