Tagesschau modern?

MEDIENTAGEBUCH Man wird ja noch einmal nachdenken dürfen. Etwa darüber, ob die Tagesschau in der Präsentation nicht allmählich einer kleinen Modernisierung bedürfe. ...

Man wird ja noch einmal nachdenken dürfen. Etwa darüber, ob die Tagesschau in der Präsentation nicht allmählich einer kleinen Modernisierung bedürfe. Ob nicht an Stelle des verlesenden Sprechers der moderierende Journalist auf den Bildschirm solle. Darüber grübelte jedenfalls vor kurzem Patrick Leclercq nach, der zweite Chefredakteur von ARD-Aktuell. Man hätte andere journalistische Möglichkeiten, sagte der Nachrichtenmann, zum Beispiel würden Nachfragen bei Reportern möglich. Erkennbar hat er dabei das etwas andere Nachrichtenkonzept von heute vor Augen, das mit Petra Gerster und Klaus-Peter Siegloch durchaus erfolgreich Zuschauer anzieht.

Leclercq gab freilich auch gleich zu, dass Intendanten und Gremien das ganz anders sähen. Das Dementi folgte also auf dem Fuß. Die Tagesschau sei so unglaublich erfolgreich, dass niemand daran dächte, auch nur ein Jota zu ändern. Sie sei mit durchschnittlich zehn Millionen Zuschauern immer noch die erfolgreichste Nachrichtensendung des deutschen Fernsehens. Die Tagesschau bleibt also, was sie ist: quadratisch, praktisch, gut.

Es wird nicht der letzte Vorstoß gewesen sein. Auch wenn Dagmar Berghoff bei ihrem Abschied vor zwei Monaten noch der Nachwelt hinterlassen hatte, nur die verlesene Nachricht sei die wahre Nachricht. Das ist allerdings schnell als Pseudoalternative erkennbar. Vorgelesen werden auch die TV-Nachrichten der anderen, genauer: sie werden vom Teleprompter abgelesen. Der Unterschied besteht allein in der Präsentation. Während die Nachrichtenleute aus der heute-Redaktion uns glauben lassen, sie sähen uns tief in die Augen, rascheln die Tagesschau-Sprecher noch mit dem Papier, aus dem die Meldungen ja tatsächlich auch sind. Ist ja vielleicht ehrlicher.

Dennoch ist es erstaunlich, dass die Alternative zwischen Verlesen und Ablesen immer noch die Öffentlichkeit bewegt und wenigstens für BILD am Sonntag noch eine Krisen-Vermutung abgibt. Erklärbar ist das Phänomen der schnellen Erregbarkeit durch eine simple Nachrichtensendung eigentlich nur dadurch, dass die Tagesschau nur zum geringsten Teil eine simple Nachrichtensendung ist. Sie ist vielmehr eine Institution und selbst eine Botschaft. In ihrem rituellen Ablauf ist sie so ziemlich das Beständigste, was man in unbeständigen Zeiten kriegen kann.

Der Kommunikationswissenschaftler Ulrich Schmitz hat den Mechanismus einmal so beschrieben: »Sie bewältigt die Angst vor Veränderung durch Abwehr der Gefahr, die im Neuen stecken könnte, indem sie es als irgendwie doch schon Bekanntes zeigt.« Er nennt die Tagesschau eine »Wahrnehmungsconcierge« für die ganze Welt, die wie jede ordentliche Hausmeisterin Tratsch und Neuigkeiten sortiert und für ideologische ordnung sorgt: »Sie ordnet Neues in Altes ein.« Das ist wichtiger als die Nachrichten selbst. Von denen kann man sich ohnehin nicht einmal ein Drittel des Inhaltes merken, von Details oder Diffenzierungen gar nicht zu reden. In dieser Funktion als Concierge und Gouvernante gab und gibt die Tagesschau auch bis heute den Tagestakt an. Sie war einmal der Scheidepunkt für die enorm wichtige Frage, ob die Familie davor oder danach essen solle. Die Familie entschied sich für: dabei. So ist es bis heute. Mit der Tagesschau beginnt eigentlich erst der Abend und der Feierabend, auch wenn viele nicht mehr »dabei« essen, sondern jeder für sich und meist unterwegs. So wie auch jeder für sich fernsieht.

Weil die Tagesschau also die Botschaft selbst ist, nämlich dass die Welt in Ordnung ist und überdies in eine Viertelstunde passt und weil sie bislang noch den Tag strukturiert, wenigstens in der Wahrnehmung, deshalb ist es auch so schwer, sie zu verändern, und sei es nur in Kleinigkeiten. Kontinuität ist alles. Das gilt auch für die Sprecher und Sprecherinnen. Nachrichten sind ja nicht nur das Werk von Nachrichtenmenschen, sondern Nachrichtenmenschen sind auch das Werk von Nachrichten.

Der berühmteste, Karl-Heinz Köpke, wurde seinerzeit von vielen Zuschauern für den eigentlichen Regierungssprecher gehalten (was auch einiges aussagt über die politische Linie der Sendung). Was Köpke sagte, galt und war offiziell. Er regierte damit die Tagesschau dreißig Jahre lang. Dagmar Berghoff war 23 Jahre lang im Amt, und der derzeitige Chefsprecher, Jo Brauner, tut seinen Job auch schon seit einem Vierteljahrhundert. Weil sie Seriosität an sich verkörperten, wurden Nachrichtensprecher auch - heute würde man sagen: virtuell - in die Familien aufgenommen. Als Wilhelm Wieben sich ohne Aufsehen in den Ruhestand verdünnte, bekannte er in einem Interview melancholisch, er sei ein Möbel. Die Nachrichtensprecher als Familieninventar. Sie, die immer wiederkehrenden Verkünder vom Club der unbewegten Mienen, garantieren persönlich, dass abends um acht die Welt noch steht und wahrscheinlich morgen auch noch - wie schlecht die News und wie scheußlich die Bilder auch sein mögen.

An den Gründen, warum die Tagesschau sich bisher hat so schwer verändern lassen, kann man zugleich erkennen, warum sie wenigstens moderaten Veränderungen und Anpassungen gar nicht wird entkommen können. Der Gestus der Verkündung wirkt allmählich unzeitgemäß wie Frontalunterricht. Die Menschen, informiertere zumal, haben inzwischen viele Möglichkeiten, an Informationen zu kommen und sich diese passgerecht zuzurichten - über Nachrichtenkanäle, Videotext und, immer häufiger, über Internet - dass das tableauartige Überreichen des Neuesten ihnen komisch vorkommen muss. Auch die soziale Funktion der Tagesschau verliert an Bedeutung. Sie zerfällt mit dem Normalarbeitstag und mit der Normalfamilie.

Die Tagesschau wird also anders werden müssen, wenn sie bleiben will, was sie ist. Kann sein, es geht ihr wie anderen konservativen Institutionen auch, und sie gerät unter den Druck des Infotainments und der Unterhaltungsdramaturgien. Kann sein, dass wir dann noch einmal dem trockenen Rascheln der Blätter hinterherhören und der Zeit nachtrauern, als eine Nachricht noch eine Nachricht war, nicht mehr und nicht weniger. Vorgelesen, verkündet und geglaubt.

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