Traurig, tröstlich

Christoph Heins Roman für Kinder "Mama ist gegangen"

Der Bischof ist ein Dialektiker. "Ich beneide Euch um Euer Unglück", sagt er dem Vater und den drei Kindern, denen grade die Mutter weggestorben ist, "denn dass ihr unglücklich seid, bedeutet, ihr wart einmal sehr glücklich." Er spricht vom Glück der individuellen Liebe, die sich von der priesterlichen Allgemeinliebe deutlich unterscheidet.

Mama ist gegangen heißt sehr sachlich und nüchtern Christoph Heins zweites Kinderbuch nach Das Wildpferd unterm Kachelofen, (1984) einer wunderbaren, verspielten Kinderzimmer-Abenteuergeschichte. Beide Bücher sind nicht vergleichbar. Dies hier ist eins mit einem schwierigen, ja mit einem schweren Stoff: ein Buch über Tod und Trauer, über Verlust und das allmähliche Loslösen aus der Starre. Die zehnjährige Ulla ist die Hauptfigur dieses Jugendromans und sie wird durch den Tod der Mutter jäh aus der familiären Geborgenheit gerissen. Nun müssen sie und ihre Brüder, deren Eigenschaften Christoph Hein sehr sorgfältig in einen der Poesie und einen der Wissenschaft zugeneigten Charakter aufgeteilt hat, das Leben neu beginnen. Und am Ende wird das Leben zurück kehren. Der 15-jährige Karel lernt ein Mädchen kennen und die Ferien auf Hiddensee verlaufen so schön, wie Ferien nur in Ferienbüchern sein können.

Vor allem aber hilft die Kunst. Der Vater ist Bildhauer, im verwilderten Garten hat er viele Steine stehen, die auf den Meißel warten. Oft geht er, stinkende Zigarren rauchend, hinaus und betrachtet die Steine, ob sie von sich aus herzeigen, was in ihnen steckt. In Arbeit hat der Vater eine große Pietà, eine Auftragsarbeit des dialektisch denkenden Bischofs. Sie soll vor dem Dom in einer süddeutschen Stadt aufgestellt werden. Der Bischof kommt, um das Werk zu besichtigen, und erweist sich auch als kunstsinniger Rotweintrinker. Lange geht er wortlos um die Statue herum, pafft auch eine stinkende Zigarre und sagt dann: "Ungewöhnlich, überraschend. Die Pfarrkinder werden Augen machen." Und der Vater, der Bildhauer antwortet: "Ja, das soll die Kunst. Sie soll uns sehen helfen. Sie soll uns die Augen öffnen. Uns Augen machen".

Mama ist gegangen ist auch eine Geschichte über Kunst und ihre Bedeutung. Christoph Heín schreibt darüber in einer hierzulande seltenen Weise: als einer ernsthaften Arbeit, einer selbstverständlichen Lebensäußerung, einer Tätigkeit, die Geduld braucht und Geduld aufbringt. In dieser Hinsicht ist das Buch vergleichbar mit Konrad Wolfs leider weitgehend vergessenem Film Der nackte Mann auf dem Sportplatz. Wenn am Ende der Vater in der Pietà das Lächeln seiner verstorbenen Frau verewigt, so wirkt diese Haltung wie selbstverständlich und notwendig, obwohl die Idee doch nahe am Sentimentalen lagert.

Dass Sentimentalität sich nicht einstellt, liegt auch an Christoph Heins kunstvoll sachlicher Sprache. Man wird hier keine Spreizungen finden, kein Schaumschlagen und kein Gefühlswühlen. Ein schwer wiegender Stoff und ein gradliniges Schreiben: das Einfache, das schwer zu machen ist. "Mama ist gegangen" sagt, einmal Bruder Paul zu Ulla, "und wir haben das Gefühl, der Himmel stürzte über uns ein. Das sind Dummheiten. Mama ist nur vorausgegangen und wir werden, ob du willst oder nicht, ihr hinterhergehen". Doch erst mal siegt das Leben in dieser traurigen und tröstlichen Geschichte. Ein großes kleines Buch.

Christoph Hein: Mama ist gegangen. Beltz Gelberg, Weinheim 2003, 146 S.,
12,90 EUR


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