Meine Nachmittage als Schlüsselkind waren lang und nicht besonders aufregend. Es gab genaue Abmachungen zwischen meiner Mutter und mir in Bezug auf die Schularbeiten und den Abwasch, das Müll herunterbringen und die Zeit, wann ich, sollte ich "runter" gegangen sein, wieder zu Hause sein musste. Gelegentlich besuchte ich meine Oma und durfte ihr helfen, wenn sie mal kurz aus ihrem Laden gehen oder einen Moment die Füße hochlegen wollte. Manchmal ging ich auch zum Kaufmann um zu sehen, ob es HO-Butter gab, damals eine teure Rarität, die kostengünstige Butter wurde in knapp bemessenen Mengen auf Marken abgegeben. Es gab aber auch interessantere Nachmittage, auf die ich mich erwartungsvoll freute. Dann nämlich durfte ich meine Mutter im Museum abholen und kam natürlich stets eine ganze Weile vor ihrem Dienstschluss dort an. Besonders in den Herbst- und Winterzeiten herrschte in den Ausstellungsräumen ein diffuses Licht. Wenn wenige Besucher da waren, hallten die Schritte recht unheimlich durch die Säle und die Prozessionsstraße von Babylon, durch die ich, flankiert von den Löwen auf blauem Grund, gehen musste, wenn ich zu meinem bevorzugten Platz wollte.
Vorbei am Ischtar-Tor gelangt man noch heute in den Milet-Saal, der in meiner Kindheit den Abschluss der Sammlung bildete, die durch das Vorderasiatische Museum zu erreichen war. Der Pergamon-Altar war zu der Zeit noch nicht wieder aufgestellt.
Um die ganze Schönheit des Markttores von Milet zu sehen, musste man erst durch den Saal hindurch und ein paar Stufen zu einer Art Balustrade hochsteigen. Ihr Marmor war vom vielen Berühren an der Kante schon lange speckig geworden.
Da lehnte ich oft, um den unten im Saal sitzenden Kunststudenten in die Zeichenblöcke zu gucken. Stundenlang saßen sie dort schweigend, den Blick zum Markttor von Milet gewandt, ständig die erhaben wirkende Architektur mit dem vergleichend, was sie aufs Papier gebracht hatten, unwillig verschmierend, was nicht gelang, radierend, verwerfend. Das Schweigen wurde nur unterbrochen von dem Geräusch geknüllten Papiers, das achtlos fallengelassen auf den kostbaren Boden des römischen Mosaiks in die Mitte des Saals rollte, das man überhaupt nicht betreten durfte, was die zwischen Messinghaltern gespannten roten Kordeln signalisierten. Man sieht das Mosaik nur von oben so richtig, von "meiner" Balustrade aus, auf der ich etliche Nachmittage verbrachte, in wortloser Gesellschaft der Damen von der Aufsicht, für die die zeichnenden Studenten wohl auch eine Abwechslung waren. Ständig umgeben von Jahrtausende alten Steinen und kostbaren Glasgefäßen, wohlverwahrt in Vitrinen, war ihnen der Blick für das Geheimnisvolle des Saals vielleicht zum Alltäglichen geworden. Ich war meist still und versuchte heimlich, auch das Markttor zu zeichnen.
An einem besonderen Nachmittag durfte ich dabei sein, als ein Restaurator auf die Balustrade kam und eine Vitrine zum Reinigen öffnete. Er reichte mir unter geflüsterten Beschwörungen, bloß nicht zu wackeln oder sonst eine Bewegung zu machen, ein Tränenkrüglein, eine Grabbeigabe aus irisierend grünem Glas, das leicht in meiner Hand lag. Der Reiz des Gegenstands und der Zauber seiner Unersetzlichkeit berührten mich auf ganz unbekannte Weise. Mir wurde schwindlig vor Glück.
Als ich an diesem Nachmittag wieder auf das Mosaik schaute, gespannt, wie sie wohl das Knüllpapier von der unbetretbaren Fläche holen, waren die Studenten und das Papier weg. Mein Wunsch, zum Auflesen herangezogen zu werden, hatte sich erübrigt. Wie also den Fuß doch noch auf die Fläche setzen? Man muss mir diese Absicht angesehen haben, immer war jemand da, der guckte.
Jahrelang dachte ich nicht mehr an diesen einst so dringenden Wunsch. Aber dann rückte seine Erfüllung unerwartet nahe. Vor historischer Kulisse sollte Iphigenie in Aulis von Christoph Willibald Gluck gegeben werden. Der Milet-Saal, mittendrin das kostbare Mosaik, wurde zum Auditorium, das Markttor zur Kulisse. Zum Schutz wurde das römische Kleinod mit einer Holzfläche bedeckt, auf der ein Teppich den Ton von eventuell scharrenden Füßen dämpfen sollte. Ich saß bei der Vorstellung am Rand des bedeckten Mosaiks auf einem Klappstuhl und tastete ohne Schuh unter die Holzfläche nach den quadratischen bunten Steinchen. Sie zu fühlen war fast so schön wie Glucks Musik.
Meine eigenen Versuche, auch mal so nebenbei eine passable Zeichnung vom Markttor von Milet für meine Oma zu machen, misslangen allesamt. Sie hätte sie in ihrem Zigarettenladen eingerahmt aufgehängt und endlich meinen Holzschnitt mit dem Boot am Strand austauschen können.
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