Die Krippe gibt es noch. Sie lagert, seit ich denken kann, das Jahr über in Seidenpapier gewickelt und in Pappkartons gesteckt in einem Regal im Hobbykeller neben den leeren Marmeladengläsern. Maria trägt einen blauroten Mantel, so groß wie ein Taschentuch und Josef fällt immer um, obwohl er doch vor dem Kinde knien sollte. (Wir lehnen ihn halt gegen den Ochsen und dann fällt es nicht so auf.) Als ich ein Kind war, habe ich seine Gesichtszüge unter dem hölzernen Vollbart genau studiert, wie auch die der zwei Hirten. Einer hatte eine Halbglatze und verzog das Gesicht, als sei er ein armer Sünder. Irgendwie kommt es mir heute vor, als fehle ein Schaf oder gar zwei. Die habe ich als Achtjährige, wenn die Familie im Mittagsschlaf lag, vorsichtig weggenommen und zu den anderen Tieren auf dem Teppich gestellt, mit denen ich spielte. Sie wurden vom Löwen angefallen und getötet, aber keiner hat es gemerkt, weil ich sie noch vor dem Kaffee zurückstellte, so dass sie wieder mit gereckten Hälsen in die Krippe schauen konnten. Das bisschen Stroh, das darin lag, wurde mit den Jahren immer weniger, und heute haben wir wohl alle vergessen, dass das Kindchen nicht ungeschützt in der rohen Krippe schlief. Heute steht neben der Krippe der Aschenbecher und einige Weingläser und vielleicht auch noch eine Kerze, aber niemand schaut mehr genau hin. Und wenn mein Vater sie nicht aus dem Keller geholt hätte - wir Kinder würden sie womöglich glatt vergessen.
Ja, die Kinder kommen Weihnachten wieder heim, auch wenn sie ein paar Jahre aus Protest, wegen Auslandsreisen, aus experimentellen Gründen weggeblieben sind. Und natürlich kommen sie nur wieder wegen des alten Vaters oder der Nichten, aber nicht wegen sich selbst. Sie haben sich schließlich zwanzig Jahre und mehr aus dem Elternhaus entfernt, jedes in eine andere Richtung, haben Ausbildungen abgebrochen und Berufe ergriffen, nach Liebe gesucht und Schlüssel verloren, persönliches Wachstum hinter und vor sich.
Nun beziehen sie ihre alten Zimmer, steigen in die alten Betten, gehen mit dem Hund spazieren und lassen die Schwester den Weihnachtsbaum schmücken, weil sie es immer getan hat. Der Weihnachtsbaum ist eine Edeltanne und die Kugeln nicht mehr die gleichen wie früher. Auch hängen keine Schokoladenpäckchen mehr dran, dafür aber reichlich Lametta. Davon schmeißt der Bruder eine Handvoll in die Äste und der Schwester schießt das Blut in den Kopf. Ihr Herz klopft wild, als sie daran denkt, dass er das schon immer gemacht hat, und wie sehr sie diese Lieblosigkeit hasst und dass sie früher immer nach Papa brüllte, was sich heute aus Gründen der Volljährigkeit verbietet. Und der Bruder grinst nur und setzt sich wieder hin.
Jedes Jahr echte Kerzen im Baum und immer wieder die gleiche Frage: "Müssen wir nicht aufpassen, wenn sie runterbrennen?" Der Vater faucht: "Sie gehen von selbst aus!", als wenn er das nicht vor zehn Jahren schon so sagte, mit genau dem gleichen genervten Unterton. Auch die beleidigte Reaktion der Kinder ist Tradition. So sehr, dass sie auch mal fünf Jahre ausfallen konnte und jetzt, hier, doch mit bewundernswerter Bündigkeit zum ersten Streit führen könnte, der immer damit endete, dass ein Familienmitglied noch vor der Bescherung wieder auf der Autobahn war, oder das Andere sich schweigend auf sein Zimmer zurückzog. So weit lässt man es heute nicht mehr kommen. Man ist Musiker, Personalchef, Chemiker, Lehrer, was weiß ich, und freiwillig hier. Man reißt sich zusammen.
Man setzt sich um den Kaffeetisch, in der Mitte der Adventskranz mit seinen ordentlich verschieden weit heruntergebrannten Kerzen, und bemerkt, dass man keineswegs mehr so wild auf die glasierten Lebkuchen ist, nach denen man früher mit beiden Händen griff, bevor die Schwester dasselbe tun konnte. Man wäre wild auf ... einen Joint. Aber das passt nicht hierher. Auch bestimmte Themen bleiben ausgespart und über bestimmte Personen wird nicht gesprochen. Man fragt den jüngeren Bruder nach seiner Karriere und die ältere Schwester nach ihrem Kind. Man tauscht Handy-Nummern aus, die man längst hätte austauschen sollen und je länger man zusammensitzt, desto stärker wird das irritierende Gefühl, dass man sich doch mal verdammt gut kannte: mit aufgeschlagenen Knien, trotzig, verbockt, nackt, sitzengeblieben, mit Windpocken übersät, irrsinnig verknallt, naschsüchtig, lügend.
Und man erinnert sich an die verantwortungslosen Zeiten, an denen man am Nachmittag des Heiligen Abend gemeinsam auf dem Sofa lümmelte und einander die Kekse klaute, bis die Krümel überall waren. Im Fernsehen lief Sissi und Old Shatterhand. Mutter bearbeitete in der Küche das Wildschweinfleisch für den ersten Weihnachtstag, und weil die Spülmaschine so laut war, riefen wir ihr zu, sie möge doch die Tür schließen. Aber morgen wird die Hälfte von uns schon wieder weg sein. Und Mutter ist auch schon tot. Deswegen sitzt man weiter zusammen.
"Old Shatterhand? Lass uns doch gucken!" Begeistert transportieren alle ihre Kaffeetassen vor den Fernseher, und als die süße Geigenmusik durch die Prärie streicht, dringt sie fast wie Valium in die Venen. Man sinkt zurück und ergibt sich dem Kampf um Recht und Ordnung. Aber nach einer halben Stunde Hin-und-Hers mit Winnetou und den Bösewichten steigt die Spannung nicht weiter.
Am Abend gibt es Fondue, wie früher schon. Früher standen nur irgendwie mehr Sachen auf dem Tisch. Und das Tischtuch ist nicht mehr weiß. Aber die Sitzordnung ist wie sie immer war, und der Vater läuft ständig in den Weinkeller.
Mit der Bescherung hat es heute keiner mehr eilig. Sie ist zum Zeremoniell heruntergekommen. Es gibt Taschenbücher oder eine CD, mit der man nicht anecken kann. Kein Grund zu Euphorie. Man freut sich freundlich oder fragt sich, was das wohl für eine Anspielung sein sollte mit den buddhistischen Sprüchen in dem Taschenbuch. Und wenn man vom Herumsitzen früh ermüdet in sein Zimmer hinaufgeht, vergisst man seine Geschenke unten auf dem Tisch, was einem als Kind niemals passiert wäre.
Doch, ein Weihnachtsoratorium lief im Hintergrund und die Kerzen am Baum schimmerten, bis sie von selbst ausgingen. Es gab das obligatorische Wallnusseis und Obstsalat mit Orangenlikör, und nachher wurden Nüsse geknackt, während das Feuer im Kamin flackerte. Draußen lag sogar tiefer Schnee.
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