Stuttgart ist eine saubere Stadt, eine sichere Stadt, eine wohlhabende Stadt, eine, die sich anschickt, "kinderfreundlichste Großstadt" zu werden. Eine echte Vorzeigemetropole also. In diesen Tagen freilich wirkt ihr durch die Institution der "Kehrwoche" befördertes Saubermannimage etwas beschmiert. Buchstäblich. Denn aus den orangefarbenen Abfallbehältern, die alle paar hundert Meter am Straßenrand stehen, quellen alte Plastiktüten, Zigarettenpackungen, Bananenschalen und Fast-Food-Becher. Daneben stapeln sich Gurkengläser und Weinkartons zu Müllinseln. Vor den adretten Gründerzeithäusern und Villen liegen unschöne Abfallhügel und Berge von Gelben Säcken mit Verpackungsmüll.
"Na, Herr Oettinger, sieht es bei Ihnen nun so aus wie in Berlin?" ulkte Maybritt Illner den baden-württembergischen Ministerpräsidenten in ihrer Sendung Berlin Mitte an. Der entgegnete etwas ungelenk, in Berlin gebe es auch schöne Fleckchen. Doch natürlich wurmt es ihn wie seine Länderkollegen, dass die Angestellten im öffentlichen Dienst den Aufstand proben: Seit dem 6. Februar wird gestreikt. Für die Beibehaltung der 38,5-Stunden-Woche. Und gegen vermutete Stellenstreichungen. Fast 12.000 Beschäftigte haben allein in Baden-Württemberg Land und Kommunen den Arbeitskampf angesagt. In Stuttgart wurde seit fast zwei Wochen kein Müll entsorgt. Und wäre es derzeit nicht so klirrend kalt im Südwesten, hätte der Protest nicht nur dieser Stadt ein rechtschaffenes Hygieneproblem beschert.
Alle Räder stehen still
Bei Minustemperaturen stehen sie auch am Tag acht des Streiks auf dem Stuttgarter Schlossplatz - in Ruf- und Blickweite zum Landtag, der mehrheitlich für gut befunden hatte, die Angestelltengehälter den Beamtengehältern anzupassen. Da werde doch "was verdreht", klärt Bernd Riexinger vom Podium aus auf - der Verdi-Bezirksgeschäftsführer und Landessprecher der WASG. Nicht die Gewerkschaft habe Schuld daran, wenn Müll nicht abtransportiert werde, sondern die Arbeitgeber, die den bestehenden Tarifkompromiss mit Verdi gekündigt hätten. Nun stehen die Räder eben still. Von den öffentlichen Arbeitgebern, die Druck machen und drohen, will sich Verdi nicht davon abbringen lassen. Man könne, wenn überhaupt, nur aus der "Position der Stärke" heraus verhandeln - und das heißt aus Riexingers Sicht: Streik. Auf vier bis fünf Wochen hat man sich eingestellt, soviel gibt die Streikkasse her. "Die Solidarität nimmt nicht ab, sondern zu", ruft Sibylle Stamm, die Ver.di-Bezirkschefin Baden-Württembergs, den frierenden Frauen und Männern mit den Trillerpfeifen und den rot-weißen Ver.di-Streiktüten überm Bauch zu. Großes Gejohle und Gepfeife.
Der Mann vom Elternbeirat, vom Jugendamt, mehrere Gewerkschafter, der ungeübt stotternde Redner von Attac wie der versierte Menschenfänger der IG Metall sagen immer das gleiche: keine Arbeitszeitverlängerung, kein "Stellenraub" durch die 40-Stunden-Woche. Na klar, man könne den Müll auch im Pferdefuhrwerk abtransportieren, tönt der talentierte Metaller. Man könne die Patienten auch unter Einsatz von Schnaps und Beißholz operieren. "Ging doch früher auch mal!", lockt er die fröstelnde Masse. Sie lachen, fühlen sich verstanden. Der rede gut, nickt ein junger Streikender.
Die Medien stellten doch alles verdreht dar, Zeitungen behaupteten, dass wütende Mütter vor den Kindertagesstätten, erboste Theaterbesucher vor geschlossenen Bühnen gestanden hätten. Nichts sei wahr. Die Solidarität sei enorm. "Alles PR von Schuster", sagt ein Kinderpfleger aus dem städtischen Olgahospital. Stuttgarts Oberbürgermeister wolle, dass die Bürgerschaft angesichts der verweigerten Dienstleistung gegen den Streik aufbegehre. Doch die Eltern wüssten genau, dass es letztlich um eine schlechtere Versorgung gehe. "Wir frieren für die Zukunft Ihrer Kinder" hat der Pfleger deshalb mit einem Kollegen auf sein Transparent gepinselt. Das Bild wird in den Nachrichten gezeigt.
Auf Plakaten steht das Wort "Jugend"
Der katholische Betriebsseelsorger - auch er darf sprechen - applaudiert dem Spruch: "Ein paar müssen furchtlos werden!" Wieder einer, der sie versteht. "Die einen haben immer mehr Arbeit, die anderen leben auf Staatskosten", sagt der Kinderpfleger. Andrea Elsässer, OP-Schwester in den städtischen Kliniken, empört sich darüber, dass die Arbeit "immer dichter" werde. Sie erzählt die Geschichte des Betriebsausfluges an ihrem Klinikum. Der fand jedes Jahr statt, bis die Krankenhausleitung diesen geselligen Tag für entbehrlich hielt: Er wurde gestrichen - und 17 Stellen mit ihm. Das, erinnert die 46-jährige Mutter einer Tochter, habe sie "entsetzt". Für die bislang "passive Gewerkschafterin" war dies das Schlüsselerlebnis. Deshalb steht sie hier und sagt: Nein. Man müsse sich "langsam ethische Fragen stellen". Immer nur hoch mit der Arbeitszeit hält Elsässer für eine wenig "kreative Lösung". Die aber fordert sie von der Politik.
Kerstin Schuster vom Stuttgarter Tiefbauamt streikt ebenfalls zum ersten Mal. Etwas schüchtern hat sie sich mit ihrer Kollegin unter die erfahrenen Demonstrierer gestellt. Die Motivlagen ähneln sich: "Es kann nicht sein, dass ich immer mehr arbeite und immer mehr Stellen gestrichen werden", meint die Mittdreißigerin. Die Jugendlichen würden zu 90 Prozent nicht übernommen. Den Beteuerungen des Oberbürgermeisters, die Mehrarbeit werde zur Verbesserung der Infrastruktur verwandt und nicht, um Stellen zu streichen, glaubt sie keine Sekunde. "Das war bis jetzt immer so." Die Umstehenden nicken eifrig. Zuerst seien die so genannten Wegezeiten gestrichen worden, also der Weg vom Arbeitsplatz zur Kantine, dann zwei Tage Arbeitszeitverkürzung. Und während Kerstin Schuster sich noch empört, bekommt Uwe Theilen, der Gesamtpersonalratsvorsitzender der Stadt, einen Riesenapplaus: "Die Politiker versprechen den Bürgern die Verbesserung der Öffnungszeiten und gleichzeitig 20 Prozent Stellenstreichung - das kann es nicht sein!" In Stuttgart seien seit dem Jahr 2003 850 Stellen "vernichtet" worden. Zahlen, die keiner auf dem Schlossplatz überprüfen kann. Aber sie decken sich mit der gefühlten Realität der Streikenden. Noch immer ging die Mehrarbeit zu lasten derer, die erst gar keine Arbeit bekommen. Auf vielen Plakaten steht das Wort "Jugend".
Einer, der die Befürchtungen ganz frisch bestätigen kann, ist Dennis Schmidt. Der 23-jährige gelernte Ver- und Entsorger im Klärwerk erzählt, dass vier von sieben in seinem Lehrjahr nicht übernommen wurden. Und in anderen städtischen Bereichen gestalte sich die Quote weit schlechter. "Für unsere Jugend" steht auf seinem Schild. Auch Sahzade Odabos, der seit 22 Jahren im Garten- und Friedhofsamt buckelt, findet, bei alldem müsse man "an die Generation nach uns denken". Vier Kinder habe er, 16 Jahre der Älteste. Sie suchten Lehrstellen, Praktikumsplätze. Er würde natürlich eine halbe Stunde länger arbeiten. Doch darum gehe es nicht. Die Kinder bekämen dann erst recht keine Arbeit. Jeden Tag, wenn er aus dem Haus gehe, leseer im Blickder Kinder die Frage: "Vater, was mache ich?" Das, sagt Sahzade Odabos, lasse ihn traurig werden. Als die Veranstaltung weitergeht stimmt der graumelierte Schnauzbartträger in den Chor seiner Kollegen ein: "Hoch die internationale Solidarität." Irgendwie ist alles eins.
Dass die Mülleimer übervoll sind, die berufstätigen Mütter und Väter, so sie nicht allein erziehende "Härtefälle" sind, Urlaub nehmen müssen, dass Schwimmunterricht ausfällt, weil das Schwimmbad bestreikt wird oder nur im Notfall operiert wird, ist aus Sicht der aufgewühlten Angestellten der Preis, den es zu zahlen gilt, um Schlimmeres zu verhindern. Dass auch Ver.di um Einfluss kämpft, dass die Dienstleistungsgewerkschaft Mitglieder verloren hat und nun auch in eigener Sache Stärke demonstrieren muss, ist selbstredend auf dem Schlossplatz kein Thema. Ebenso wenig wie die Nachricht aus dem badischen Freiburg. Dort durchkreuzen mehr als 100 Leiharbeiter Ver.dis Rechnung: Sie tragen im Auftrag der halbprivaten Abfallbeseitigungsgesellschaft den Schmodder weg, den die streikenden Müllwerker absichtsvoll liegen lassen. Stuttgart und Mannheim überlegen ebenfalls, den Streik derart unterlaufen zu wollen.
"Streikbruch" sei "kein Kavaliersdelikt", erregt sich Ver.di-Mann Riexinger. Die Angestellten nähmen nur ihr Grundrecht auf Streik wahr. Sollten die Städte dies durch Dritte torpedieren, gälten keine Notdienstvereinbarungen mehr. Selbst der Winterdienst würde gestrichen. Dann, weiß der erfahrene Gewerkschafter, ginge es um weit mehr als 18 zusätzliche Minuten täglich. Sollten die Städte Dienstleistungen privatisieren, ginge es um Jobs, um die Existenz vieler. So kalt war es lange nicht mehr im schönen Stuttgart.
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