Nach zwei Jahren Versprechungen und Vertröstungen herrscht in Cancún, dem luxuriösen Badeort auf der mexikanischen Halbinsel Yucatán, gequälter Zweckoptimismus. Vom 10. bis zum 14. September sollen dort Finanz- und Wirtschaftsministerialbeamte und ihre Chefs aus 145 Ländern anlässlich der 5. Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) Fortschritte begutachten und Konsensentscheidungen vorlegen. Denn wo ein Ereignis ist, muss auch ein Erfolg her. Worin dieser bestehen könnte, darüber herrscht allerdings große Uneinigkeit.
Vereinbart ist im Grunde nur, die regulär alle zwei Jahre stattfindende WTO-Ministerkonferenz für eine Halbzeitbilanz zu nutzen. Die Delegierten sollen darüber befinden, wie weit der bei der letzten Ministerkonferenz in Doha/Katar beschlossene Kalender von Handelsmaßnahmen zum Wohle der Entwicklungsländer gediehen ist. Falls diese sogenannte Doha Development Agenda (DDA) positiv bewertet wird, würde Ende 2004 eine neue Liberalisierungsrunde eingeläutet werden, sagen die einen. Die anderen meinen, die Runde sei bei einem positiven Urteil automatisch beschlossene Sache. Und schon ziehen dunkle Wolken am Verhandlungshorizont auf.
Was nach Detailklauberei aussieht, ist von enormer Brisanz. Vor allem der EU ist derzeit nichts wichtiger als der Start einer neuen Liberalisierungsrunde - ein Silberstreif für rezessionsgeplagte europäische Unternehmen, wie der zuständige EU-Handelskommissar Pascal Lamy Anfang September noch einmal vor dem Europäischen Parlament versicherte. Da die Steigerung des Handelsvolumens zu mehr Wohlstand bei allen Beteiligten führe, sei dies auch für die Entwicklungsländer ein Segen. Nur ein gut geöltes multilaterales Regelwerk wie die WTO könne die Schwächeren, also die Länder des Südens, vor den Gesetzen des Handelsdschungels schützen. Die Liberalisierungsrunde soll umfassend sein und nach dem Willen der EU auch die sogenannten "Singapore Issues" beinhalten. Diese nach dem Sitz der zweiten Ministerkonferenz benannten Themen sind Investitionen, Wettbewerb und öffentliches Auftragswesen.
Viele Länder des Südens sehen das allerdings anders. Jüngst verfassten 68 arme und ärmste Länder, immerhin knapp die Hälfte der WTO-Mitglieder, eine Erklärung, in der sie die Aufnahme von Verhandlungen zu den "Singapore Issues" rundweg ablehnen. Dass Investitionen keineswegs zwangsläufig den Empfängerländern - und dort schon gar nicht den armen Bevölkerungsteilen - zugute kommen, war auch die Quintessenz einer in diesem Jahr vom UNDP, dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, veröffentlichen umfangreichen Studie. Cancún ist selbst ein schönes Beispiel für Fehlinvestitionen: 80 Prozent der Hotels sind in ausländischer Hand, der Tourismussektor boomt. Aber die Leute sind arm geblieben, und die Stadt leidet unübersehbar an Bausünden.
Auch die Abstimmung zwischen den Ländern des Nordens verläuft keineswegs reibungslos. Während Kommissar Lamy insbesondere die Interessen europäischer Konzerne vertritt, wollen US-Vertreter dafür sorgen, dass die Vereinigten Staaten nach wie vor Handelsabkommen nach der Maxime "politisch für uns oder gegen uns" abschließen können. Ägypten etwa wurde unlängst wegen seines Verhaltens im Irakkrieg mit Verhandlungsabbruch bestraft. Im Gegensatz zur DDA steht auch die "US Farm Bill", die den amerikanischen Landwirten in den nächsten sechs Jahren 70 Prozent mehr Subventionen zahlt als bisher. Das ist mehr als die gesamte US-Entwicklungshilfe für den Süden. Ein Handelshemmnis ist auch ein neues US-Gesetz zur Unterstützung von Exportfirmen, das eine millionenschwere Übereck-Subventionierung mittels windiger Steuersenkungsprogramme erlaubt.
Im Vergleich zu den offiziellen Delegationen herrscht unter den von Mexikos Regierung als "globalifóbicos" beschimpften WTO-KritikerInnen kaum Dissens. Ihre Gegenaktivitäten in Cancún stehen unter dem Motto "Derail the WTO" - "Bringt die WTO zum Entgleisen". Die Liberalisierung des Handels unter der Ägide der demokratisch unkontrollierbaren WTO habe nicht nur die Schere zwischen Arm und Reich größer gemacht, die DDA sei auch eine einzige Abfolge von verschleppten Verhandlungen und damit letztlich nur ein unlauteres Lippenbekenntnis. Ein Beispiel ist der Zugang zu patentgeschützten AIDS-Medikamenten: Ende 2002 fiel ein bereits erzielter Kompromiss dem Veto der USA zum Opfer.
Im Vorfeld der Konferenz von Cancún wurden die Fristen für alle relevanten und abstimmungsbedürftigen Themen verpasst, zumeist weil die EU und die Vereinigten Staaten den Verhandlungsprozess blockierten. Keine ernsthafte Bewegung gab es beim Landwirtschaftsabkommen. Dem im August von den USA und der EU präsentierten Beschlussvorschlag fehlen Zahlen und Daten zum Subventionsabbau. Das widerspricht der zentralen Forderung des Südens, Dumping auf dem Weltmarkt zu stoppen. Beim Dienstleistungsabkommen GATS versteift sich Lamy darauf, es gehe in Cancún nur um die Festsetzung von Verhandlungsfristen. Keine Kompromissbereitschaft auch beim Thema Wasserversorgung, obwohl eine weltweite Kampagne die EU auffordert, ihre Forderungen nach Öffnung der Trink- und Abwasserversorgung für europäische Unternehmen wie Vivendi und Suez zurückzunehmen. Auch bei Zucker und Baumwolle - jüngst von Bundesministerin Wieczorek-Zeul ins Gespräch gebracht - will Lamy keine Verpflichtungen zum Subventionsabbau in Europa akzeptieren.
Kein Wunder, dass die anreisenden WTO-KritikerInnen im Überfluss Argumente und Beispiele mitbringen, die den Protektionismus der Europäer und Amerikaner illustrieren. Wenn nun die mexikanischen Behörden einen ungestörten Verhandlungserfolg sichern und verhindern wollen, dass die Konferenz in den feinpulvrigen Sand von Cancún gesetzt wird, indem sie Kritik abwürgen und kriminalisieren, verwechseln sie erneut die Verantwortlichen. Im August wurden ursprünglich komplizierte Visa-Bestimmungen erlassen, die ironischerweise Delegierte, akkreditierte Nichtregierungsorganisationen und JournalistInnen trafen und nicht diejenigen, die auf der Straße protestieren wollten. Die Demonstranten sollen nun dadurch ferngehalten werden, dass Sonderausweise mit Foto und Strichcode an alle Angestellten des Hotelsektors vergeben werden. Alle ohne Strichcode oder Akkreditierung dürfen seit dem 1. September das Kongressviertel nicht mehr betreten. Eine mittlerweile bekannt gewordene schwarze Liste, die 20 mexikanische und 60 ausländische Kritiker den Kategorien "moderat" und "Ultra-Globalifóbico" zurechnet und sich wie ein "Who is Who" der Globalisierungstheorie liest, soll nach bekanntem Muster Angst schüren und in Gewaltfreie und Gewaltbereite spalten.
Die Zeichen stehen auf Sturm, nicht nur weil in Cancún im September die Hurricansaison beginnt. EU-Kommissar Lamy befindet sich mit seinem verzweifelten Versucht, gutes Wetter zu machen, eher auf verlorenem Posten. Der am 30. August vom Vorsitzenden des Allgemeinen WTO-Rates vorgelegte Schlusserklärungsentwurf sei eine gute Basis und werde am Ende beweisen, dass 50 Prozent der DDA unter Dach und Fach sind. Dagegen verbreitet Washington gerade, der Abschluss der DDA zum 1. Januar 2005 sei nicht durchzuhalten und das Jahr 2007 wohl realistischer. Ebenso munkelt man von einer zusätzlichen außerordentlichen WTO-Konferenz - womöglich in Hongkong -, um die voraussichtlichen Nichtbeschlüsse von Cancún wettzumachen. An dem neuen Zeitplan ist was dran. Das Mandat Lamys läuft 2004 aus, und im kommenden Jahr ist in den USA Wahlkampf. Da bleibt kein Raum für die Abarbeitung einer Entwicklungsagenda. Unter dem Strich zählen auch weiterhin allein die Interessen der Elefanten im WTO-Dschungel.
Weitere Informationen unter: www.attac.de/cancun/
Die WTO und ihre Ziele
Hervorgegangen aus dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) setzt die Welthandelsorganisation WTO (World Trade Organization) seit 1995 Regeln für den globalen Handel fest. Sie ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen mit Sitz in Genf und hat derzeit 145 Mitgliedsstaaten, die über 90 Prozent des Welthandels abwickeln. Liberalisierung, Senkung der Zölle, Überwachung internationaler Dienstleistungs- und Handelsregelungen sowie Abkommen über Eigentums- und Patentrechte gehören zum offiziellen Programm der WTO.
3. Ministerkonferenz in Seattle (USA), 30.11. bis 3.12.1999
Auf der Agenda standen die Liberalisierung des Handels mit Agrarprodukten und Dienstleistungen sowie Barrieren für die internationale Ausschreibung öffentlicher Aufträge. Die Fachminister der damals 135 WTO-Mitglieder konnten sich allerdings nicht auf eine neue Freihandelsrunde ("Millenniumsrunde") einigen. Die Konferenz scheiterte an Interessenkonflikten zwischen den USA und der EU, zwischen Entwicklungsländern und Industriestaaten sowie an massiven Protesten gegen die "Piratenkonferenz".
4. Ministerkonferenz in Doha (Katar), 9.11. bis 14.11.2001
Erneut standen Landwirtschaft, Dienstleistungen und der Schutz ausländischer Investoren, aber auch Streitschlichtung, Patentrechte und Umweltfragen auf der Tagesordnung. Der Abbau von Agrar- und Exportsubventionen wurden zum gemeinsamen Ziel erklärt, aber nicht verbindlich festgeschrieben. Die Minister einigten sich auf eine neue Handelsrunde ab 2002, die bis 2005 abzuschließen ist.
GATS UND TRIPS
Über das bereits 1994 abgeschlossene Dienstleistungsabkommen GATS (General Agreement on Trade in Services) wird seit Februar 2000 mit dem Ziel neu verhandelt, die weitgehend national regulierten Dienstleistungen stärker dem globalen Wettbewerb auszusetzen. In Doha setzten die Länder des Nordens gegen etwa 80 südliche Länder durch, dass fortan Investitionen in den Dienstleistungssektor und das öffentliche Beschaffungswesen zur Verhandlungsmasse der WTO zählen. Beim Abkommen über die Rechte an geistigem Eigentum TRIPS (Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights) geht es vor allem um globale Patent- und Lizenzrechte, die geistiges Eigentum wie Musikstücke und EDV-Programme sichern sollen. Die Entwicklungsländer stimmten dem Abkommen nur unter dem Vorbehalt zu, dass die Patentierung lebender Materie, insbesondere von Pflanzengenen, überprüft werden soll.
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