Lateinamerikanische AutorInnen scheinen in deutschen Verlagen für die Beschreibung üppiger, tropisch-sinnlicher Wirklichkeit zuständig zu sein. Auch ein Schuss Magie sollte nicht fehlen. Wer die Gnade der Übersetzung findet, bedient dieses Klischee offenbar unweigerlich. Noch "typischer" wird es mit einem weiteren Ingrediens: der Hure. Aus männlicher Feder ist sie seit dem 19. Jahrhundert Lieblingsvertraute des Protagonisten. Jetzt haben auch Autorinnen diese Figur entdeckt. Autoren wähl(t)en die Prostituierte, weil patriarchalem Gesellschaftsverständnis nach ein Mann nur mit ihr, der Bildungslosen, eine erzählerisch wahrscheinliche Beziehung unterhalten kann, ohne in Vater-, Bruder- oder Gattenkomplikationen zu stolpern. Für Schriftstellerinnen hingegen könnte(!) die Figur emanzipatorisches Potential freilegen.
Aber darauf legt es Daína Chaviano gar nicht erst an. Der lautmalerisch ansprechende Originaltitel ihres soeben auf deutsch erschienenen Romans El hombre, la hembra y el hambre (Der Mann, das Weibchen und der Hunger) lässt auf Unordnung im Geschlechterverhältnis kaum hoffen. Der deutsche Titel Havanna Blues ist eindeutiger: Es geht der 1991 aus Kuba in die USA umgesiedelten Autorin ums Lamentieren - für eine handfeste Abrechnung ist das Material zu dürftig.
Die "hintergründige" Story des "vielschichtigen Romans" (Klappentext) ist schnell durchschaut: Rubén trifft eines Tages auf dem Handwerkermarkt seine Traumfrau und verabredet sich mit ihr. Oh Ungeduld: "Er wusste, dass er mit der Ungewissheit, ob er sie wiedersehen würde, bis zum Sonnenuntergang leben musste." Gottlob, er übersteht die Qual und sieht sie wieder, seine Heilige. Es ist die Kunsthistorikerin Claudia, der gekündigt wurde, weil sie gegen den Ausverkauf nationaler Kunst protestierte. Das Liebesglück währt kurz. Rubén kommt wegen Schmuggels ins Gefängnis, und die Heilige steht angesichts akuten Geldmangels vor der wahrhaft Hamlet'schen Frage: "Hure oder nicht Hure werden? Das ist hier die Frage." Sie wird's und lässt deswegen auch ihren nächsten Liebhaber Gilberto im Stich. Rubén und Gilberto ("Frauen sind geheimnisvolle Tiere") sind befreundet und klagen sich ihr Leid über die verlorene "Geheimnisvolle", ohne zu bemerken, dass es sich um dieselbe Person handelt. Dem Leser und der Leserin entgeht dies aber keineswegs, und so ist der Rest ein knapp 300 Seiten langes Warten darauf, dass die Protagonisten ebenfalls drauf kommen. Zeit genug für die eigentlichen Absichten des Romans.
Da wäre zunächst das touristische Anliegen. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass KubanerInnen ausgerechnet in der Hemingway-Kneipe Bodeguita del Medio zu Mittag essen, ständig vor der Eisdiele La Coppelia Schlange stehen, sich abends im Tropicana vergnügen und dabei immer wieder eingehendst diese Örtlichkeiten wie auch den gesamten Stadtplan Havannas erklären, aber für ein Buch, das sich an (potentielle) Kuba-Reisende richtet, mag das angehen. Auch das Personal entspricht demjenigen, das TouristInnen kennenlernen: lauter kubanische AkademikerInnen, die sich im Dienstleistungsbereich durchschlagen. Daneben lernt Claudia naturgemäß ausländische Freier kennen, die allesamt sympathisch, spendabel und bemerkenswerterweise nie rassistisch sind. Dass Claudia ihre Doppelexistenz beenden und wieder einen "normalen" Beruf ergreifen will, liegt denn auch vor allem an ihren - da ist sie, die Magie! - hellseherischen Fähigkeiten. Nicht die Freier sind ihr verhasst, sondern ein Geist, der stets kurz vor der nächsten Bettaffaire auftaucht.
Dann die Klage über das Land. In Kuba herrscht kein Mangel, Kuba ist die Hölle: "Nein, die Zeiten waren entschieden besser, als die Menschen noch in Höhlen lebten... Vielleicht bekam man ab und zu den einen oder anderen Keulenhieb, aber sicherlich hatten die Menschen weniger Angst und waren nicht so traumatisiert.". Die schwangere Claudia muss den Putz von den Wänden essen: "Mit einem Löffelchen kratzte sie Kalk staub und Kalkstückchen von der Stärke eines Blattes Papier von den Wänden, sammelte sie auf einem Tellerchen und schlang diese Delikatesse dann unter seltsamen Gewissensqualen in sich hinein.". Für Begriffsstutzige folgt die Holzhammer-Interpretation: "Hier zu leben war schauerlich." Dagegen war es in der Kolonie und bis zur Revolution angenehm auf Kuba: Den Sklaven ging es gar nicht so schlecht, sie durften sogar ein Handwerk erlernen; die Paläste der Grafen und Herzöge waren hübsch, ihre Angestellten gut genährt. Jetzt ist es nur noch beim Besuch in der Diplotienda, dem Dollarladen, so schön wie im richtigen Kapitalismus.
Mag sein, dass der Autorin da einiges durcheinandergeraten ist, nur leider nicht die klassischen Geschlechterrollen. Noch am Ende ist es nicht Claudias Wille, sondern die "Bestimmung", die sie führt. Und es sind Männer, die im Boot mit Richtung Miami auf die "weiblich" Unentschlossene warten. Wir ahnten es schon. Alle Rätsel des Romans sind lange vor seinem Ende gelöst. Nur das eine bleibt: Warum verkauft der Verlag das Buch als ersten Roman der Autorin, wenn es nach Erinnerungen einer außerirdischen Großmutter (1991, Verlag Volk und Welt) allein schon das zweite auf deutsch ist?
Daína Chaviano: Havanna Blues. Aus dem Spanischen: Yasmin Bohrmann. Lichtenberg. München 1999. 304 S., 36,90 DM.
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