Brutal und zynisch

Reichskriegsgericht In den Prozessen gegen die „Rote Kapelle“ gibt es fast 50 Todesurteile, beantragt von Ankläger Manfred Roeder. Der NS-Jurist wird später nie zur Verantwortung gezogen

Ende August 1942 beginnen die Festnahmen. Sie ziehen sich über Wochen hin und erfassen mehr als 100 Menschen. Die Gestapo glaubt, sie habe Mitglieder einer Widerstandsgruppe gefasst, die sie intern Rote Kapelle nennt. Den meisten Festgenommenen wird bald darauf der Prozess vor dem Reichskriegsgericht gemacht. Viele von ihnen sitzen einem Ankläger gegenüber, der immer wieder die Todesstrafe fordert: Oberstkriegsgerichtsrat Manfred Roeder, damals 42 Jahre alt.

Nach dem Ende der Nazi-Diktatur glaubt sich Roeder frei von Schuld, obwohl es gegen ihn – den einstigen Chefankläger der Roten Kapelle – zwei Anzeigen wegen seiner zynischen und brutalen Amtsführung gibt. Die alliierte, später die bundesdeutsche Justiz sehen jedoch keinen Grund, ihn anzuklagen. 1968 versucht der renommierte Jurist Robert Kempner ein letztes Mal, Roeder vor Gericht zu bringen. Auch er scheitert.

Kempner hatte als Jurist im Preußischen Innenministerium schon vor 1933 versucht, gegen Adolf Hitler vorzugehen, und war 1935 wegen „politischer Unzuverlässigkeit in Tateinheit mit fortgesetztem Judentum“ von den Nazis aus dem Amt entfernt worden. Er emigrierte in die USA, engagierte sich weiter gegen die Nazis und kehrte 1945 nach Deutschland zurück, um US-Chefankläger Robert Jackson bei den Nürnberger Prozessen zu unterstützen. Danach ging er als Anwalt nach Frankfurt am Main und setzte sich zumeist erfolgreich für die Bestrafung von NS-Tätern ein.

Von der Gestapo instruiert

Was ist vor 70 Jahren, im Spätsommer 1942, geschehen? In Berlin widersetzen sich die Freundeskreise um den Luftwaffenoffizier Harro Schulze-Boysen und den Oberregierungsrat Arvid Harnack der NS-Diktatur. Sie dokumentieren Gewaltverbrechen, verteilen Flugblätter und helfen Verfolgten, Deutschland zu verlassen. Damit der Krieg ein schnelles Ende findet, versuchen Schulze-Boysen und Harnack, militärisch relevante Nachrichten von Berlin nach Moskau zu übermitteln. Doch fehlt es an geeigneten Funkgeräten. Weil von ihnen in Moskau keine Informationen eingehen, fordert der sowjetische Nachrichtendienst einen Agenten in Brüssel per Funkspruch auf, er solle sich in Berlin – unter anderem bei Schulze-Boysen – nach Gründen für die Funkstille erkundigen. Die Gestapo fängt diese Nachricht ab, entschlüsselt sie und glaubt, den Berliner Ableger eines sowjetischen Spionagerings entdeckt zu haben.

Im Spätsommer 1942 werden daraufhin etwa 120 Männer und Frauen aus den Bekanntenkreisen um Harnack und Schulze-Boysen festgenommen. Bei den Verhören stellt sich heraus, dass kaum einer etwas über eine geplante Funkverbindung nach Moskau weiß. Zudem wird klar: Es gab kein brauchbares Funkgerät. Dennoch fühlt sich die NS-Führung von diesem bunten Haufen aus der Mitte der Gesellschaft bedroht. Er entspricht nicht ihrem Feindbild einer straff organisierten kommunistischen Gruppe. Also instruiert sie Gestapo und Reichskriegsgericht, die Angelegenheit geheim zu halten und mit abschreckenden Urteilen zügig aus der Welt zu schaffen. Roeder wird zum Chefankläger ernannt und diesen Erwartungen im Interesse seiner Karriere gerecht. Er verleumdet die Angeklagten kurzerhand als von Moskau bezahlte Spione aus einem Halbweltmilieu. Fast 50 Todesurteile stehen schon vor Prozessbeginn fest.

Nach dem Ende der NS-Diktatur wollen Überlebende der Widerstandskreise Roeder juristisch zur Verantwortung ziehen. Der befindet sich seit Mai 1945 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Im September 1945 geht bei den Alliierten eine Anzeige gegen ihn wegen Aussageerpressung ein, weil er während der Verhöre im Herbst 1942 Folter geduldet und die Manipulation aller Aussageprotokolle im Sinne der Anklage unterstützt hat. Freilich sind die US-Ermittler weniger an den Vorwürfen gegen Roeder als vielmehr an seiner Kenntnis der NS-Justiz interessiert: Sie brauchen ihn als Zeugen gegen andere NS-Juristen. Weil nichts geschieht, kommt es 1947 zu einer zweiten Anzeige gegen Roeder, diesmal unter Berufung auf Kontrollratsgesetz Nr. 10, das dazu auffordert, „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu verfolgen. Aber auch dieses Ansinnen verpufft.

Dann spitzt sich der Kalte Krieg zu. In einer aufgeheizten Atmosphäre wird die Schulze-Boysen-Harnack-Gruppe zum größten westeuropäischen Netz der sowjetischen Militäraufklärung stilisiert und zum Forschungsobjekt westlicher Geheimdienste. Das Counter Intelligence Corps (CIC), der damalige Nachrichtendienst der US-Armee, erhofft sich von seinem Kriegsgefangenen Roeder Auskünfte über die Sowjetspionage und behält ihn deswegen weiter in Haft. In den Vernehmungen lässt Roeder seiner Fantasie freien Lauf. Seine Aussagen lassen sich nicht überprüfen – die Gestapo hat einen Großteil der Prozessunterlagen zur Roten Kapelle noch im Mai 1945 vernichtet.

Weil Roeder für die Amerikaner als „Quelle“ an Wert verliert, übergeben sie im Sommer 1948 das Verfahren gegen ihn an die deutsche Staatsanwaltschaft in Nürnberg. Die setzt den Gefangenen auf freien Fuß. Daraufhin verlangt die Regierung in Moskau die Auslieferung des NS-Juristen und stößt auf Ablehnung. Um Roeder vor sowjetischer Verfolgung zu schützen, kommt er im Oktober 1948 wieder in Gewahrsam. Jetzt beginnt ein Staatsanwalt in Nürnberg, gegen ihn zu ermitteln, und findet nicht genügend Belastungsmaterial für ein Strafverfahren nach deutschem Recht. Von der Brutalität des ehemaligen NS-Juristen ist er jedoch überzeugt.

Das Verfahren wird eingestellt

In der amerikanischen Zone kann Roeder nicht wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht gestellt werden, sondern nur in seinem Heimatort in der britischen Zone. Dorthin wird er im Januar 1949 aus der Untersuchungshaft entlassen. Die Ermittlungsakten aus Nürnberg gehen an die Staatsanwaltschaft in Lüneburg, die Mitte 1949 ihrerseits mit Ermittlungen beginnt. Der zuständige Staatsanwalt befragt zwei Jahre lang vor allem an den Prozessen vor dem Reichskriegsgericht beteiligte Gestapo-Beamte und NS-Juristen. Die verschweigen hartnäckig die tatsächlichen Widerstandshandlungen der Regimegegner, leugnen die Folter, verunglimpfen die einstigen Angeklagten weiterhin als „von Moskau bezahlte Spione“ und bestätigen die angebliche Rechtsstaatlichkeit der Prozesse von 1942/43. Das überzeugt die Lüneburger Staatsanwaltschaft. Sie erklärt die wenigen Belastungszeugen für unredlich und die NS-Urteile für rechtmäßig. Am 12. November 1951 stellt sie das Verfahren ein.

In den folgenden Jahrzehnten wird der Mythos von den Berliner Widerstandskreisen als Teil der sowjetischen Auslandsspionage in West und Ost aus unterschiedlichen Interessen medial aufgebauscht und ausgeschlachtet. 1968 erscheint im Spiegel eine mehrteilige Serie, für die der Autor intensiv recherchiert hat. Er beschuldigt Roeder, auch vollkommen unschuldige Menschen zum Tode verurteilt zu haben. Das nimmt Anwalt Kempner zum Anlass, den einstigen Ankläger wegen Mordes anzuzeigen.

Die zuständige Staatsanwaltschaft in Frankfurt am Main hat wenig Interesse an der Sache. Sie stellt keine eigenen Ermittlungen an, sieht erst ein Jahr später in die 20 Jahre alten Akten aus Lüneburg und kommt ebenfalls zu dem Schluss, die Berliner Regimegegner seien als sowjetische Spione rechtmäßig zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Sie stellt im Mai 1971 das Verfahren ein. Roeder stirbt ein halbes Jahr später als geachteter Rechtsanwalt und Gemeindevorstand eines kleinen Orts in Hessen. Kempner überlebt ihn um mehr als 20 Jahre und erlebt noch die Anfänge einer kritischen Aufarbeitung der NS-Justizgeschichte in Deutschland.

Heute haben die Widerstandskreise um Harro Schulze-Boysen in der ständigen Ausstellung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin einen festen Platz. Auf Antrag von Angehörigen wurden in der Zwischenzeit einige der damaligen Unrechtsurteile aufgehoben.

Geertje Andresen ist Publizistin und hat mehrere Bücher zur Roten Kapelle geschrieben

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