Hiroshimas langer Schatten

Wiederkehr des Verdrängten Die Begriffsgeschichte von "ground zero" bringt die Widersprüchlichkeiten der amerikanischen Außenpolitik an den Tag

Ground Zero: Wer auch immer diesen Begriff im Kontext der Terroranschläge auf Manhattan zuerst ins Spiel brachte, seine massen-mediale Vereinnahmung und Verbreitung erfolgte erstaunlich schnell und kritiklos. Innerhalb weniger Tage nach dem 11. September wurde ground zero sowohl im allgemeinen als auch im offiziellen Sprachgebrauch zum Synonym für das Gelände des zerstörten World Trade Centers. Manch einer mochte sich gefragt haben, woher dieser Terminus stammt, was er bedeutet, doch scheint bisher keiner den Begriff und seinen Gebrauch näher erforscht zu haben. Doch dies zu tun lohnt sich, zeigt doch die Genealogie des Begriffs die Komplexität der amerikanischen Reaktion auf die Anschläge des 11. September.
Schaut man sich den Ursprung des Terminus ground zero an, so wird man auf den Zweiten Weltkrieg zurückverwiesen. Und zwar an jene Orte, die trotz der Beschwörungen von Pearl Harbor infolge des 11. Septembers in den Medien nicht zur Sprache kamen: Hiroshima und Nagasaki. So definiert das Oxford English Dictionary ground zero als "diejenige Stelle am Boden, über der eine Bombe, insbesondere eine Atombombe, explodiert" und zitiert als Ersterscheinung des Begriffs aus einem Bericht der New York Times von 1946 über das zerstörte Hiroshima.
Dass bisher keiner der historischen Hypothek nachgegangen ist, die der Begriff ground zero gerade in der aktuellen Konstellation mit Pearl Harbor enthält, verwundert insofern nicht, als bis heute jegliche Basis für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Hiroshima bei amerikanischen Künstlern, Schriftstellern, Intellektuellen und der breiten Öffentlichkeit fehlt. So gab es in den Staaten bis heute noch keine offizielle Anerkennung des Hiroshima Day. Keine Äußerung der Reue oder Schuld hat man je aus dem Weißen Haus vernommen. Und es gibt auch kein atomares Holocaust Museum in Washington.
Man kann dennoch davon ausgehen, dass den meisten Amerikanern, wenn nicht der Ursprung, so zumindest die Assoziation von ground zero mit dem Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki 1945 vertraut ist. Der Opferstatus, den die Amerikaner nach dem 11. September über den Terminus ground zero für sich reklamierten, ist zumindest unbewusst von größerem Ausmaß, als dies über den sichtbaren Umgang mit dem Gelände deutlich wird. Die große Resonanz des Begriffs verleiht der Tiefe der Trauer und des Schmerzes Ausdruck. Spräche man aber den Ursprung des Begriffs an, würde dies mit Sicherheit dem zerstörten Gelände, das über Monate hinweg zum Ort nationaler Weihe und Gedenkens überhöht wurde, ein störendes, bitteres Moment beifügen.
Vielfach wurde das Wiederaufgreifen des "Drehbuchs" des Zweiten Weltkriegs seitens der Bush-Administration in den amerikanischen Medien vermerkt, ohne jedoch diese Wiederaufnahme, geschweige denn das offizielle Drehbuch selbst, zu kritisieren. Europäer mögen sich der Funktion des Zweiten Weltkriegs für das amerikanische Selbstverständnis vielleicht nicht so bewusst sein. Es ist daher wichtig zu betonen, dass dieser Krieg im offiziellen und über weite Teile auch im allgemeinen amerikanischen Gedächtnis als der "letzte gute Krieg" verankert ist. Ein Krieg, der von der "best generation" gekämpft und gewonnen wurde, der die moralische Überlegenheit Amerikas exemplifizierte und der das amerikanische Selbstverständnis als tugendhafte(ste) Nation bis heute fundiert.
Das Wiederaufgreifen der Rhetorik des Zweiten Weltkriegs im heutigen Diskurs fungiert also als kollektiver Rückgriff auf die damalige moralisch (vermeintlich) eindeutige Haltung der Nation. Die historischen ground zeros müssen dabei freilich verschwiegen werden. Denn Hiroshima und Nagasaki, synonym für die unrühmliche Geschichte, wie der zweite Weltkrieg beendet wurde, stellen das offizielle Drehbuch des "guten Krieges" wesentlich in Frage.
In Hiroshima und Nagasaki begingen die amerikanischen Führer damals ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit - eine nicht notwendige Bombardierung zweier japanischer Städte, der 300.000 Menschen, größtenteils Zivilisten, zum Opfer fielen - für das sie sich bis heute nicht verantworten mussten. Über 50 Jahre lang wurde die Verleugnung Hiroshimas und Nagasakis durch einen sorgfältig verwalteten Mythos gewahrt, laut dem die Auslöschung der Städte und ihrer Bewohner unvermeidlich für die Rettung von Leben und der Beendigung des Krieges war. Obwohl dieser Mythos von einer Vielzahl historischer Forschungsarbeiten jüngeren Datums widerlegt wurde, fundiert er weiterhin die official story.
Nach dem Krieg verhinderten die Besatzungszensur und strenge amerikanische Kontrollen des Bildmaterials aus den zwei zerstörten japanischen Städten eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den menschlichen Kosten dieses atomaren Ersteinsatzes. Die Veröffentlichung der Hibukusha, der Überlebendenberichte, wurde bis nach dem Ende der Kriegsverbrecherprozesse von 1948 in Tokio hinausgezögert, und eine de facto Zensur fotografischer Darstellungen von menschlichen Opfern beschränkte das Bildmaterial aus dem Kriegsgebiet auf Fotos menschenleerer Ruinen. Die amerikanische Öffentlichkeit wurde also sorgfältig vor solchen Bildern und Erzählungen abgeschirmt, die Empathie mit den Opfern und Kritik an der amerikanischen Politik hätten auslösen können.
Es gab einige kritische Stimmen, die dieser Zensurpolitik zuwider liefen. Am 1. Juli 1946 erschien ein Bericht, der eine Studie des US Strategic Bombing Survey zusammenfasste, laut dem sich Japan "sicherlich vor dem 31. Dezember 1945, und mit größter Wahrscheinlichkeit vor November 1945, [...] ergeben hätte, auch in dem Falle, dass die Atombomben nicht abgeworfen worden wären [...]".
Doch diese Störungen der offiziell propagierten, selektiven Geschichtsschreibung wurde von einflussreichen Personen in Universitäten und Regierung erfolgreich pariert. So setzte sich zum Beispiel Harvard-Präsident James Conant für die Veröffentlichung von zwei Texten ein, in denen Karl Compton, Präsident des Massachusetts Institute of Technology und Henry Simpson, ehemaliger Kriegssekretär Trumans, der amerikanischen Öffentlichkeit in kontrollierter Rhetorik und mit der vollen Autorität des politischen Establishments versicherten, dass ihre Führer mit Weisheit, Menschlichkeit und Verantwortung gehandelt hätten.
Mit Beginn des Kalten Krieges verhärtete sich diese offizielle Version der Geschichte zu einer Orthodoxie. Seitdem wechselte die amerikanische Haltung zu Hiroshima nach einer Aussage des Historikers Paul Boyer zwischen Erinnern, Indifferenz und motiviertem Vergessen parallel zu den "wechselnden Zyklen von Aktivismus und Ruhe in Amerikas jahrzehntelangem Umgang mit der nuklearer Bedrohung".
Amerikas eigener, schwacher Historikerstreit fand erst 1995 statt. Ausgelöst wurde er durch die Kontroverse um das Vorhaben des Smithsonian Institutes, das Flugzeug, die Enola Gay, das die Atombombe über Hiroshima abwarf, im National Air and Space Museum in Washington auszustellen. In dieser Ausstellung wollten die Kuratoren jene kritischen, die offizielle Geschichtsschreibung revidierenden Interpretationen historischer Fakten miteinbeziehen, die sich zu dem Zeitpunkt unter Historikern laut J. Samuel Walker als "neuer Konsens" etabliert hatten. Die Umsetzung dieses Ausstellungskonzepts hätte demnach die Besucher zur kritischen Auseinandersetzung mit der amerikanischen Pazifikgeschichte angeregt. Der Ausstellungsabschnitt Ground Zero hätte viele Amerikaner zum ersten Mal mit den niederschmetternden Fotografien und Relikten konfrontiert, die das Leid der zivilen Bombenopfer, unter ihnen hauptsächlich Frauen und Kinder, in vollem Ausmaß dokumentieren und die der internationalen Öffentlichkeit bis heute weitgehend vorenthalten werden.
Gut organisierte Gruppen von Kriegsveteranen attackierten die geplante Ausstellung aufs Heftigste. Neun Monate lang, bis Januar 1995, wurde in den Medien erbittert debattiert. Da die Ausstellungskritiker die Kontroverse dominierten, sahen sich die Kuratoren wiederholt gezwungen, ihre Konzeption zu revidieren, um den Forderungen der Air Force Association und der American Legion gerecht zu werden. Eine politisch impotente Verteidigung des ursprünglich kritischen Ansatzes der Ausstellung von Seiten der Historiker war zu schwach und kam zu spät. Der Streit endete mit der Anordnung von 81 Kongressmitgliedern, den Direktor des Air and Space Museums, Martin Harwit, zu feuern, und deren Androhung, den Etat des staatlich finanzierten Smithsonian Instituts empfindlich zu beschneiden, sollte die Ausstellung nicht auf orthodoxen Kurs gebracht werden. Am 30. Januar gab Harwit bekannt, dass die geplante Ausstellung nicht stattfinden würde. Am 2. Mai trat er zurück.
Ganz sicher wird mit der Übernahme von ground zero eine kollektive Wunde markiert, doch welche Wunde genau? Die des Verlusts von 3.054 unschuldigen Bürgern und Nicht-Bürgern in einem spektakulärem, Hollywood-mäßigen Angriff? Oder die des Mitansehenmüssens, wie mit den Angriffen auf das World Trade Center und das Pentagon die amerikanischen Machtsymbole der Nachkriegszeit so effektvoll getroffen und zerstört wurden? Oder ist es in der Tat eine komplexere, narzisstische Wunde, die hier aufgerissen wurde, nämlich der Schock darüber, dass Amerika keineswegs von allen geliebt wird, und die unheimliche Ahnung, dass sein weltweiter Machteinsatz vielleicht nicht der nationalen Rhetorik moralischer Außergewöhnlichkeit und Überlegenheit gerecht wird? In der Tat geht es in diesem symptomatischen Sprachgebrauch letztendlich um die moralische Legitimität der amerikanischen Hegemonie.
Angesichts der Wellen, die die Enola Gay-Kontroverse mehrere Monate lang in den Medien landesweit schlug, sollte den meisten Amerikanern die Verbindung von ground zero mit Hiroshima und Nagasaki bekannt sein. Doch ist niemand zu einer kritischen Auseinandersetzung mit diesem Ursprung, das heißt der Wiederkehr verdrängter amerikanischer Geschichte, die die geographischen Verschiebung des ground zero von Japan nach Manhattan beschreibt, bereit. Es scheint also, dass die Amerikaner in jener Reaktionsstruktur gefangen sind, die Freud das "Agieren" nennt: das Wiederholen einer Problematik, das um so mehr an Emotionalität und Intensität gewinnt, je größer der Widerstand wird, ihren Ursprung und repetitiven Charakter zu erkennen.
Agieren mag eine notwendige Etappe in der Bewältigung einer belastenden Vergangenheit sein. Doch in unserem Falle ist die Wirkung dieses Agierens keineswegs harmlos. Harry Truman begann seine Bekanntgabe der Bombardierung Hiroshimas mit einer Erinnerung an Pearl Harbor und implizierte damit, dass die Japaner nun endlich ihre gerechte Strafe bekommen hätten. Die Historiker Lifton und Mitchell bezeichnen diese Beschwörung des Überraschungsangriffes auf Pearl Harbor und der japanischen Schandtaten zur Rechtfertigung für amerikanische Gegengewalt als eine fatale moralische Umkehrung: da die Japaner wegen ihrer Brutalität ihre Menschlichkeit eingebüßt hätten, sei der Rache der amerikanischen Opfer keine Grenze gesetzt. Indem sie ihren Gegner - Zivilisten eingeschlossen - auf den Status des "Un-Menschen" reduziert hatten, konnten sich die Amerikaner gar keines Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig machen.
In den Tagen nach dem 11. September wurde genau diese moralische Umkehrung wieder angewandt, und zwar wieder mit der Beschwörung von Pearl Harbor und "des Bösen". Zu Beginn der Bombardierung Afghanistans entschuldigte Verteidigungsminister Donald Rumsfeld Amerika im voraus für alle unschuldigen Opfer des neuen Krieges. "Dass es darüber keinen Zweifel gibt", erklärte er, "die Verantwortung für jedes einzelne Opfer dieses Krieges, gleich ob unschuldige Afghanen oder unschuldige Amerikaner, liegt bei den Taliban und Al Quaida". Vier Monate später wissen wir immer noch nicht die genaue Opferzahl eines Luftangriffs, in dem unter anderem die über lange Zeit wirkenden Streubomben eingesetzt wurden. Unabhängige Schätzungen weisen auf mindestens einige Tausend Tote. Genau nachzuzählen scheint niemand zu wollen oder zu dürfen.
Der Widerstand der Vereinigten Staaten gegen einen handlungsfähigen Internationalen Gerichtshof; die hartnäckige Weigerung, die Ottawa Konvention von 1997 zum Verbot von Landminen zu unterzeichnen; Amerikas zögerliche und unverbindliche Teilnahme an der Antirassismus-Konferenz von Durban 2001; Bushs Aufkündigung des ABM-Vertrags von 1972; die absolute Abwesenheit einer öffentlichen Debatte darüber, dass die Vereinigten Staaten mehr Waffen an den Weltmarkt liefern als alle anderen Staaten zusammen: dies alles zeigt deutlich, dass der Widerspruch zwischen der amerikanischen moralischen Selbstwahrnehmung und dem tatsächlichen Handeln zumindest auf der höchsten Regierungsebene ein bewusster ist und zynisch manipuliert wird. Was der Anschlag vom 11. September also wirklich gefährdete, war nicht das nationale Überleben Amerikas, sondern die Naivität und Ignoranz der amerikanischen Öffentlichkeit, die Amerikas Griff nach Dominanz und Instrumentalisierung der supranationalen Strukturen letztendlich fundieren.
Wenn die Leugnung selbstbegangenen Terrors und eigener Grausamkeiten die amerikanische Außenpolitik bestimmt, ihr Einsatz von Gewalt im schlimmsten Fall ein mörderischer ist und im besten Falle die Prinzipien der internationalen Menschenrechte desavouiert, so bietet ein Durcharbeiten Hiroshimas die Möglichkeit, dem amerikanischen Selbstbild seine notwendige Korrektur zu erteilen. Die unkritische, unehrliche, aber außerordentlich erfolgreiche und beliebte Wiederaufnahme der Rhetorik des "Guten Krieges" in der Folge des 11. September bedeutet allerdings einen großen Schritt zurück und einen unabsehbaren Aufschub der zu leistenden Aufarbeitung der Geschichte. Doch ein weiterer Aufschub wird das Problem nicht zum Verschwinden bringen. Das Verdrängte wird immer wiederkehren - in welch pervertierter Form auch immer - und zwar solange, bis eine jüngere Generation fähig sein wird, mit diesem Verhaltensmuster der Wiederholung zu brechen.

Gene Ray, Doktor der Philosophie und Komparatistik, ist freier Wissenschaftler, Künstler und Aktivist und lebt in Sarasota, Florida. 1996/97 war er Stipendiat der Alexander von Humboldt Stiftung in Berlin. 2001 erschien das von ihm herausgegebene Buch: Joseph Beuys: Mapping the Legacy, Kontakt: tworays@mindspring.com


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