Über Angela Merkel sind einige biografische Anekdoten in Umlauf, denen sie nicht entgegentritt. Am 9. November 1989 abends sei sie mit einer Freundin in der Sauna gewesen. Als die Nachricht vom Mauerfall kam, habe sie sich kurz nach Westberlin mittreiben lassen, sei aber bald wieder zurückgekehrt: Sie musste am nächsten Morgen früh raus. Ihr Aufstieg beim Demokratischen Aufbruch und in der gewendeten Ost-CDU habe damit begonnen, dass sie die aus dem Westen gelieferten Computer auspackte und auch zu installieren verstanden habe.
Als sie im Spendenskandal Schäubles Nachfolgerin wurde, titelte die taz, sie sei die Trümmerfrau der Union. Danach suchte sie ihre Chance in den marktradikalen Vorgaben der FDP und der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft". Dass im Koalitionsvertrag nichts mehr so heiß gegessen wurde, wie Westerwelle und sie es vorher gekocht hatten, erklärte sie als Ausdruck einer Tugend: In der Demokratie müsse die Politik dem Wählerwillen gehorchen.
All dies hat nichts mit Opportunismus zu tun, sondern mit einem bestimmten Verständnis von Politik. Zur Erläuterung hier noch eine letzte Anekdote: Schon als kleines Mädchen, so wird erzählt, habe Angela Merkel sich für das begeistert, was auf der Bonner Bühne gespielt wurde. Beim Abwasch habe sie die Namen der westdeutschen Politiker vor sich hingesagt. Das sei damals bereits ihr Ding gewesen, zunächst unerreichbar, dann aber ihr unerwartet zugefallen. Wer seinem Lebenszweck - hier: der Politik - nachgehen will, verrät ihn zugleich, wenn er (oder sie) nicht die Umstände berücksichtigt, unter denen dieser Zweck allein realisiert werden kann. Hemmnisse, die nicht aus dem Weg zu räumen sind, müssen umgangen, Gelegenheiten genutzt werden. Gewiss wird man damit zum Objekt der Verhältnisse, aber durch ihre Missachtung würde der Beruf verfehlt.
Die SPD lässt verbreiten, die Kanzlerin sei schnell sozialdemokratisiert worden. Sie habe einem 25-Milliarden-Konjunkturprogramm zugestimmt, bleibe beim Atomausstieg und lehne Kombilohn sowie Mindestlohn nicht von vornherein ab.
Hier hilft die PR-Agentur der SPD darüber weg, dass die Organisation, die so spricht, seit Schröder weitgehend entkernt ist: eine Selbstermunterungs-Partei, durch die Spaßmacher Gabriel, Müntefering und Platzeck angemessen repräsentiert. Der Minimalismus in der Selbstdarstellung der Kanzlerin macht einen peinlichen Unterschied deutlich. Erstaunt merkt man, dass es auch ohne das aufgeblasene Getue von Schröder (und Fischer) geht. Manche, die aus irgendwelchen sachlichen Gründen Rot-Grün unterstützt haben, merken inzwischen vielleicht beschämt, was sie sich in Stil und Sache alles haben bieten lassen. Kommen wir von der Form zur Substanz.
Das 25-Milliarden-Konjunkturprogramm ist auf vier Jahre gestreckt, macht per annum nur 6,25 Milliarden Euro. Zum Teil handelt es sich nicht um Investitionen, sondern um Steuererleichterungen. Die Abschreibungsmöglichkeit für Handwerkerrechnungen könnte tatsächlich zu mehr Aufträgen führen, aber das gilt schon nicht mehr für andere haushaltsnahe Dienstleistungen, die Besserverdienende auch bisher nachgefragt haben. Jetzt bekommen sie vom Finanzamt wieder etwas von ihrem Geld zurück, das sie aber wahrscheinlich nicht zusätzlich ausgeben werden. Das einkommensabhängige Erziehungsgeld nützt den Reichen. Auch bisher haben sie - von der teuren Privatbetreuung bis zur Nachhilfe - ziemlich viel für ihre Kinder ausgegeben. Jetzt mindert der Staat den Aufwand. Geringverdiener haben davon wenig. Es ist also eine Umverteilung nach oben und klassenpolitische Bevölkerungspolitik: Endlich sollen wieder die Richtigen mehr Kinder kriegen.
Zieht man von den 6,25 Milliarden Euro pro Jahr die Steuererleichterungen und Familiensubventionen ab, bleiben vier Milliarden. Hält man die gleichzeitigen Einsparungen beim Arbeitslosengeld, im Öffentlichen Dienst und beim Nahverkehr dagegen (4,5 Milliarden), dann entsteht sogar per Saldo ein Nachfragerückgang. Das hat die Gewerkschaft ver.di korrekt ausgerechnet. 2007 kommt mit der Mehrwertsteuer eine weitere Schrumpfung der Massenkaufkraft. Vielleicht springt die Konjunktur vorher an. Das tut sie nämlich manchmal. Am sogenannten Investitionsprogramm wird es aber nicht gelegen haben.
Um neusozialdemokratische Politik handelt es sich aber tatsächlich. Denn auch Rot-Grün hielt nichts von Förderung der Binnennachfrage. Helmut Kohl hatte den Unternehmerspruch, Wirtschaft werde nur in der Wirtschaft gemacht, so interpretiert, dass er politisch dann auf diesem Felde gar nicht mehr so viel tun müsse. Gerhard Schröder verstand das anders: ein Genosse der Bosse müsse sozialstaatliche Hindernisse relativieren, wenn nicht sogar beseitigen. Damit hat er eine Tür aufgestoßen, die Angela Merkel benutzen kann, ohne brutal zu erscheinen.
Der Mindestlohn, dem sie angeblich nicht mehr so fern steht, kann unterschiedlich gesehen werden: als Absicherung der Arbeitseinkommen vor dem Sturz unter das Existenzminimum oder als Einladung an die Unternehmer, ihre Ausgaben bis zu diesem Minimum zu senken. Kommt der Kombilohn, dürfen auch sie Ein-Euro-Jobber beschäftigen. Eine sogenannte Wettbewerbsverzerrung zugunsten der gemeinnützigen Einrichtungen und Verbände entfällt.
Merkels Vertragstreue in der Atompolitik schmerzt die zuständigen Unternehmen kurzfristig noch nicht. Ob später einmal längere Laufzeiten oder sogar neue Meiler nötig sein werden, muss ja nicht schon jetzt entschieden werden. Die SPD freut sich, dass im Dialog mit Bush Guantánamo nicht verschwiegen wird. Merkel kann an die rot-grüne Komplizenschaft nicht nur im Jugoslawienkrieg anknüpfen, sondern vielleicht auch an die Fäden, die der BND im Irak gesponnen haben mag. So geht alles weiter seinen Gang.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.