Versetzen wir uns noch einmal in die Erwartungen, die noch fünf Minuten vor der Prognose am Wahlabend um 18:00 Uhr als allgemeingültig erschienen. Alle Meinungsforschungsinstitute hatten einen Zuwachs der CDU vorhergesagt (trotz Einbußen seit August). Zusammen mit der FDP werde sie eine knappe absolute Mehrheit erhalten oder doch zumindest gleichauf mit SPD, Grünen und Linkspartei. liegen. Also werde es entweder zu einer Regierung Merkel/Westerwelle oder einer Großen Koalition kommen.
An diese Vorhersage konnten allgemeine Betrachtungen über die Vollendung eines Projektes geknüpft werden, das der Brite Richard Cockett bereits 1994 in seinem Buch Thinking the Unthinkable am Beispiel Großbritanniens beschrieben hatte: die planmäßige Aufrollung einer Gesellschaft durch die Unternehmer und die von ihnen bezahlten Think Tanks. "Bürgerkonvent" und "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" haben die Bundesrepublik seit Jahren durch ein publizistisches Trommelfeuer auf diese Übernahme vorbereitet. Die CDU-Vorsitzende hievte einen neoliberalen Gesinnungstäter ins Amt des Bundespräsidenten. Der Kanzler schien den Machtwechsel zu beschleunigen, als er am 22. Mai Neuwahlen ankündigte. Ein gezinktes Misstrauensvotum gegen Schröder im Parlament, die rechtlich fragwürdige Auflösung des Bundestages durch Köhler, der eine ausschließlich wirtschaftspolitische Begründung vortrug, der Umfall des Bundesverfassungsgerichts: fast schon staatsstreichartig waren die Weichen für eine gelb-schwarze Koalition gestellt worden. Diese sollte Kündigungsschutz, Flächentarif und Mitbestimmung abschaffen, den Reichen weitere Steuererleichterungen bescheren und die sozialen Sicherungssysteme vollends den privaten Finanzdienstleistern ausliefern. Deutschland schien vor demselben Umschwung zu stehen, der Großbritannien mit dem Machtantritt Margaret Thatchers ereilte.
Und jetzt das. Die Union hat nicht gewonnen, sondern verloren. Sie streifte ihren Gewerkschaftsflügel und das Erbe Norbert Blüms ab und büßte damit die Wähler ein, die sie früher auf dieser Seite noch binden konnte. Indem sie sich programmatisch der FDP annäherte, machte sie sich zu deren Kopie und veranlasste viele derjenigen, die diesen Kurs billigten, dem Original die Zweitstimme zu geben.
Blamiert erscheinen - zum zweiten Mal seit Schleswig-Holstein - die Demoskopen. Vielleicht sollte man sie ein wenig in Schutz nehmen. Ihre Sonntagsfrage lautete: "Wenn heute Wahlen wären..." - sie galt also immer für einen Zeitpunkt vor dem 18. September, nicht aber für diesen selbst. Für die Zukunft ist daraus zu lernen, dass diese Umfragen keinen prognostischen Wert haben, sondern nur ein (offenbar sogar irreführender) Beitrag zur Meinungsbildung, genauer: zum Wahlkampf sind.
Das wichtigste Ergebnis aber lautet: das neoliberale Komplott ist geplatzt. Es gibt keine Mehrheit für das Programm, das CDU/CSU und FDP in dankenswerter Klarheit vorgelegt haben. Die Unternehmer und ihre Kopflanger gucken blöde aus der Wäsche.
Auch SPD und Grüne wurden abgestraft. Wer die Agenda 2010 und Hartz IV gut fand, aber zugleich wünschte, dass dieser Weg noch konsequenter beschritten werden solle, wählte lieber Schwarz-Gelb. Die Kritiker dieses Kurses wandten sich der Linkspartei zu.
Rot-Grün hat die Niederlage so begrenzt, dass beide Parteien sie sogar in einen Sieg uminterpretieren können. Dies verdanken sie einem Wahlkampf, in dem sie zu großen Teilen vergessen machten, was sie in ihrer Regierungspolitik tatsächlich getrieben haben.
Die Linkspartei hat die Stimmen hinzugewonnen, die die SPD verloren hat. Darüber mag sie sich jetzt freuen, aber das Plus ist ausschließlich konstellationsabhängig. Der Vergleich mit den Grünen zeigt den Unterschied: diese haben ein gesichertes Milieu, das im Grunde sich selber wählt. Darüber verfügt die Linkspartei nur im Osten. Im Westen ist sie jetzt mehr als eine Sekte, nämlich ein Spaltprodukt der sozialdemokratischen Bewegung. Die könnte sich das, was sie verloren hat, eines Tages wiederholen.
Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass der nun gewählte Bundestag vier Jahre zusammenbleibt. Stellen SPD und Union Schröder oder Merkel als Kanzlerkandidat/in auf, wird der eine oder die andere keine absolute Mehrheit im Bundestag erhalten, wohl aber die relative. Nach Artikel 63 Absatz 4 Satz 3 des Grundgesetzes muss der Bundespräsident dann entscheiden, ob er sie ernennt oder den Bundestag auflöst. Das wäre diesem wahrscheinlich am liebsten, aber das Wahlergebnis wird ihn zur Vorsicht anhalten.
In einer Großen Koalition wird es die SPD wohl nicht lange aushalten, sie hat dann weitere Verluste an die Linkspartei zu erwarten. Also wird sie irgendwann, wenn es ihr günstig erscheint, den Bruch suchen und einen polarisierenden Wahlkampf führen.
Man mag das Demagogie nennen. Es ist aber mehr drin. SPD und Grüne haben auch im Wahlkampf an Hartz IV und der Agenda 2010 festgehalten. Den völkerrechtswidrigen Überfall auf Jugoslawien haben sie nicht weiter erwähnt, halten ihn aber nach wie vor unverkennbar für richtig. Deshalb ist eine Zusammenarbeit mit ihnen für die Linkspartei nicht möglich. Zugleich haben die Sozialdemokraten versprochen: eine soziale Grundsicherung, Mindestlohn, Bürgerversicherung, die Verteidigung der Mitbestimmung und des Flächentarifvertrages, den Erhalt des Kündigungsschutzes sowie aktive Friedenspolitik. Das passt nicht zusammen. Also ist eine Klärung insbesondere in der SPD nötig. Die Linkspartei ist da ein wichtiges Druckmittel. Hier eröffnet sich eine Perspektive auf ein skandinavisches Parteiensystem. Aber das ist nur ein Wunschtraum.
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